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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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man auf einen Weg, der zum Meguro Expressway hinunterführte und so schmal war, dass ihn ein Auto nur mit Mühe passieren konnte. Eigentlich war es ein Fußweg. Auf der einen Seite standen Wohnhäuser, manche mit kleinen Vorgärten, die andere Seite bildete die alte Mauer um das Botschaftsgelände, mit einem Stachelgitter auf der Oberkante, das man besser nicht versuchte zu überklettern.
    An einer Stelle jedoch machte diese Mauer einen Bogen nach innen, um einem mächtigen Baum Platz zu lassen. Sich zwischen dem Baumstamm und der Mauer nach oben zu schieben war einfach, außerdem sah einen da niemand. Das Gitter oben auf der Mauer rostete an dieser stets feuchten Stelle, und aus einem der Stäbe war ein Stück herausgebrochen. Wenn man klein genug war, konnte man sich hindurchzwängen, und Hiroshi war klein genug.
    Natürlich durfte man das nicht. Das wusste er. Man brauchte eine Erlaubnis, um das Gelände der Botschaft zu betreten, und musste einen Ausweis mit sich führen. Seine Mutter hatte einen solchen Ausweis, auf dem in Japanisch und Französisch genau stand, zu welchen Bereichen sie Zutritt hatte: zur Wäscherei und zur Hauswirtschaft.
    Aber er würde das Gelände ja eigentlich nicht richtig betreten. Oder nur ein bisschen. Nur am Rand. Er würde bloß nachsehen,was das Mädchen weggeworfen hatte, und gleich wieder verschwinden.
    Ja, zugegeben – er war schon öfter hier gewesen. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen; nach und nach hatte er das gesamte Gelände erkundet. Das war gar nicht so schwierig, weil überall Bäume und Büsche wuchsen, zwischen denen man sich als Kind gut verstecken konnte. Man musste nur aufpassen, nicht vor eine der vielen Kameras zu geraten.
    Seine Mutter wäre mächtig böse gewesen, wenn sie davon gewusst hätte.
    Das Schwierigste war, auf der anderen Seite der Mauer auf den Boden hinabzukommen. Man brauchte ein Seil dazu, das man am Gitter hängen lassen musste, um später wieder hinaufzukommen.
    Der Garten der Botschaft war wie eine fremde, verzauberte Welt. Seltsam, wenn man überlegte, dass es ja nur eine Mauer war, die ihn von der normalen Welt trennte. Doch heute hatte Hiroshi keine Zeit, sich diesem Zauber hinzugeben. Er musste sich beeilen – womöglich wurden die Mülleimer bald geleert!
    Es war nicht weit. Er schlich zwischen der Außenmauer und einem kleinen, fensterlosen Bauwerk hindurch, das wohl irgendetwas mit der Heizung zu tun hatte, jedenfalls führten eine Menge weiß lackierter Rohre in alle Richtungen davon. Von dort robbte er unter einigen Büschen hindurch und gelangte schließlich an den Rand des Rasenstücks, auf dem das Mädchen im Regen gestanden hatte.
    Er spähte zu den Fenstern hinauf. War da jemand? Zumindest sah er niemanden. Rasch überquerte er den Rasen und den schmalen, mit feinem weißen Kies bestreuten Platz vor dem Haus, hob den Deckel der zweiten Mülltonne von rechts und holte die Plastiktüte mit dem orangefarbenen Supermarktlogo heraus. Dann huschte er mit seiner Beute zurück in die Deckung der Büsche. Das Ganze hatte keine zwanzig Sekunden gedauert.
    Neugierig öffnete er die Tüte. Eine Puppe? Trümmer einer Puppe, besser gesagt.
    Seltsam. Er hatte immer geglaubt, dass Mädchen ihre Puppen liebten . Dass sie sie kaputt machten, war ihm neu.
    Er betrachtete die Bruchstücke, hielt sie aneinander, überlegte. Der Kopf war abgebrochen, aber vielleicht konnte man ihn ankleben? Es handelte sich offenbar um eine Sprechpuppe, die nicht mehr funktionierte. Hiroshi dachte an seinen neuen Bastelkasten mit dem Werkzeug, das er sich so lange gewünscht hatte. Vielleicht ließ sich das damit reparieren?
    Er würde die kaputte Puppe mitnehmen.
    Es dauerte drei Tage, die Puppe zu reparieren.
    Er tat es natürlich heimlich; tagsüber, wenn seine Mutter arbeiten war. Wenn sie nach Hause kam, registrierte sie mit sichtlichem Wohlwollen, dass er nicht mehr am Fenster saß, sondern stattdessen mit seinem Werkzeug hantierte, obwohl sie nicht sah, woran, denn er räumte die Puppe immer rechtzeitig fort.
    Am dritten Tag, einem Freitag, gegen zehn Uhr war Hiroshi fertig. Die Reparatur war ihm gut gelungen, fand er; man sah fast nichts. Die Puppe sah aus wie neu. Und sie funktionierte wieder; wenn man auf den dicken Knopf zwischen ihren Schultern drückte, sagte sie verschiedene Sätze in einer fremden, melodiösen Sprache.
    Was sollte er nun damit machen? Er musste sie dem Mädchen zurückgeben, und das, so dämmerte ihm, war ein viel größeres Problem, als

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