Herr der Diebe
sich wieder zu Ida um.
»Warum haben Sie mich hergebeten?«, fragte sie und strich sich den Rock glatt.
»Nun, das ist doch wohl offensichtlich, Signora«, antwortete Ida nachsichtig. »Wir müssen uns um sehr viele Kinder kümmern, und das Geld, das uns dafür zur Verfügung steht, ist knapp bemessen, sehr knapp. Wenn wir also, wie im Falle Ihrer Neffen, erfahren, dass es Angehörige gibt…«
»Ich bin nicht mehr bereit, mich um die beiden zu kümmern!«, unterbrach Esther sie schroff. »Ich war dazu bereit, doch der Kleine…«, sie griff sich nervös ans Ohrläppchen, »… sicherlich hat Signor Getz Ihnen bereits erzählt, was wir mit ihm durchmachen mussten. Vielleicht hat Bo Sie ja auch mit seinem Engelsgesicht getäuscht, aber ich bin geheilt. Er ist trotzig, launisch und bissig wie ein kleiner Hund. Kurz und gut…«, sie holte tief Luft, »es tut mir Leid, aber selbst meiner verstorbenen Schwester zuliebe bin ich nicht mehr bereit ihn aufzunehmen, und in unserer Familie gibt es auch sonst niemanden, der bereit wäre, einen der zwei Jungen zu nehmen. Wenn Sie also die beiden hier behalten können… schließlich wollten sie ja unbedingt in diese Stadt. Das wenige Geld, das ihre Mutter hinterlassen hat, stellt die Familie sicherlich gern Ihrem Waisenhaus zur Verfügung.« Ida nickte nur. Mit einem tiefen Seufzer faltete sie die Hände auf dem Schreibtisch. »Das ist wirklich alles sehr bedauerlich, Signora Hartlieb«, sagte sie und warf einen Blick zur Tür. Victor hatte es natürlich auch gehört. Auf dem Flur näherten sich Schritte, genau nach Plan. Dann klopfte es. Esther Hartlieb sah sich um.
»Ja, bitte?«, rief Ida.
Die Tür ging auf, und Lucia schob Barbarossa in den Raum. »Der Neue hatte schon wieder Ärger, Schwester!«, verkündete sie und musterte den Rotschopf, als betrachte sie eine haarige Spinne oder irgendein anderes beunruhigendes Tier. »Ich kümmere mich darum«, antwortete Ida, und Lucia verließ mit mürrischem Gesicht den Raum.
Klein und verloren blieb Barbarossa vor der Tür stehen. Als er Esther Hartliebs neugierigen Blick bemerkte, schenkte er ihr ein verzagtes Lächeln.
»Entschuldigen Sie, Signora Hartlieb«, sagte Ida. »Aber dieser Junge ist noch ganz neu bei uns und hat viel Kummer mit den anderen. Sie haben dich also schon wieder geärgert, Ernesto?« Barbarossa nickte und warf einen unauffälligen Seitenblick in Esthers Richtung. Dann schluchzte er los, erst leise, dann immer heftiger. »Hätten Sie wohl ein Taschentuch für mich, Mutter Ida?«, schniefte er. » Sie haben mir wieder meine Bücher weggenommen.«
»O nein!« Ida griff in ihre schwarze Tracht, aber Esther war schneller. Mit verlegenem Lächeln reichte sie Barbarossa ihr spitzenverziertes Taschentuch. »Grazie, signora«, murmelte er und tupfte sich die Tränen von den langen Wimpern.
Victor warf einen unauffälligen Blick in Esthers Richtung und stellte fest, dass sie kaum die Augen von dem kleinen Rotschopf lassen konnte.
»Geh zu Schwester Caterina, Ernesto«, wies Ida Barbarossa an, »und richte ihr aus, dass sie den anderen deine Bücher wieder abnehmen soll. Außerdem soll sie sie zur Strafe auf ihre Zimmer schicken.« Barbarossa schniefte wohlerzogen leise in Esthers Taschentuch und nickte. Dann ging er mit zögernden Schritten zur Tür. »Mutter Ida?«, nuschelte er, als er schon die Hand auf der Klinke hatte. »Dürfte ich erfahren, wann wir endlich den Ausflug ins AccademiaMuseum machen? Ich würde mir so gern noch einmal die Bilder von Tizian ansehen.«
Herrgott!, dachte Victor, nun trägt das Rotbärtchen aber wirklich zu dick auf! Doch Esthers verzückter Blick belehrte ihn eines Besseren. Offenbar wusste Barbarossa sehr genau, was er tat. »Tizian?«, fragte Esther und lächelte dem Kleinen zu. »Du magst die Gemälde von Tizian?« Barbarossa nickte.
»Ich mag sie auch sehr«, sagte Esther. Ihre Stimme klang plötzlich ganz weich, völlig anders, als Victor sie bislang gehört hatte. »Tizian ist mein Lieblingsmaler.« »Oh, tatsächlich, Signora?« Barbarossa strich sich die roten Locken aus dem Gesicht. »Dann haben Sie bestimmt schon sein Grab in der Frari-Kirche besucht, oder? Am besten gefällt mir das Bild, auf dem er sich selbst gemalt hat: wie er die Madonna darum anfleht, ihn und seinen Lieblingssohn vor der Pest zu verschonen. Haben Sie es gesehen?«
Esther schüttelte den Kopf.
»Sein Sohn ist trotzdem an der Pest gestorben«, fuhr Barbarossa fort. »Und Tizian auch. Wissen Sie, Signora,
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