Herr der Diebe
Sie sehen ihr ein bisschen ähnlich, der Madonna auf diesem Bild. Ich würde sie Ihnen gern einmal zeigen.« Bei allen geflügelten Löwen!, dachte Victor. Jetzt tropft ihm gleich das Schmalz von den Lippen, dem kleinen Schmeichler. Allerdings, wenn Victor sich recht erinnerte, sah die Madonna auf dem Bild ziemlich streng aus, vielleicht ähnelte sie Esther Hartlieb wirklich ein bisschen. Das Kompliment hatte seine Wirkung auf jeden Fall nicht verfehlt.
Rot wie Klatschmohn war Esther geworden, die spitznasige Esther. Wie ein kleines Mädchen saß sie auf der Kante ihres Stuhls und sah auf ihre Schuhspitzen. Dann drehte sie sich plötzlich zu Ida um.
»Wäre das möglich?«, stammelte sie. »Ich meine, Sie wissen, mein Mann und ich sind nur noch bis übermorgen in der Stadt, aber wäre es möglich, dass ich mit dem Kleinen…«
»Ernesto«, unterbrach Ida sie mit kühlem Lächeln. »Er heißt Ernesto.«
»Ernesto.« Esther wiederholte den Namen, als lutsche sie ein Honigbonbon. »Ich weiß, die Bitte ist etwas ungewöhnlich, aber – wäre es denkbar, dass ich Ernesto zu einem kleinen Ausflug einlade? Ich würde mir von ihm die Frari-Kirche zeigen lassen, wir könnten ein Eis essen gehen oder Boot fahren, und heute Abend würde ich ihn hierher zurückbringen.«
Schwester Ida hob die Augenbrauen. Victor fand, dass ihr Erstaunen wirklich sehr echt wirkte.
»Das ist in der Tat ein sehr ungewöhnliches Anliegen«, sagte Ida und wandte sich an Barbarossa, der immer noch mit der unschuldigsten Miene der Welt dastand, die Hände sittsam hinter dem Rücken verschränkt. Das Haar hatte er sich selbst gebürstet, so lange, bis es glänzte. »Was sagst du zu dem Angebot von Signora Hartlieb, Ernesto?«, fragte Ida. »Hättest du Lust, mit der Signora einen Ausflug zu machen? Du weißt, wir kommen frühestens in einer Woche dazu.«
Nun sag schon »ja«, Rotbärtchen, dachte Victor und ließ Barbarossa nicht aus den Augen. Denk an die harten Betten im Waisenhaus. Barbarossa sah zu Victor herüber, als hätte er seine Gedanken gelesen. Dann blickte er Esther an. Nicht mal ein kleiner Hund hätte einen treuherzigeren Blick zu Stande gebracht. »So ein Ausflug wäre wunderbar, Signora!«, sagte er und schenkte Esther ein Lächeln, das so klebrig süß wie Lucias Pudding war. »Das ist wirklich reizend von Ihnen, Signora Hartlieb«, sagte Ida und läutete die kleine Silberglocke, die vor ihr auf dem Tisch stand. »Ernesto hat es zurzeit nicht leicht hier. Was Ihre Neffen betrifft«, fügte sie hinzu, als Lucia wieder eintrat, »so muss ich Ihnen leider sagen, dass sie Sie nicht sehen wollen. Soll ich Schwester Lucia trotzdem bitten, sie herzuholen?« Das Lächeln auf Esthers Lippen verschwand sofort. »Nein, nein«, antwortete sie hastig. »Ich werde sie später besuchen, irgendwann, wenn ich wieder einmal in der Stadt bin.«
»Wie Sie meinen«, sagte Ida und wandte sich Lucia zu, die wartend in der Tür stand. »Helfen Sie Ernesto bitte dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen, Schwester. Signora Hartlieb hat ihn zu einem Ausflug eingeladen.« »Wie reizend von ihr«, brummte Lucia, während sie nach Barbarossas Hand griff. »Da wollen wir dem Kleinen doch schnell noch mal den Hals und die Ohren waschen, nicht wahr?«
»Die sind gewaschen«, fuhr Barbarossa sie an und für einen Augenblick klang seine Stimme weder nett noch schüchtern. Doch Esther hatte davon nichts bemerkt. Ganz in Gedanken versunken saß sie da, auf dem harten Stuhl vor Idas Schreibtisch, und blickte zu dem Bild mit der Madonna hoch. Victor hätte drei falsche Bärte dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können. »Hat der Junge noch Eltern?«, fragte Esther, als Lucia mit Barbarossa verschwunden war.
Ida schüttelte mit einem tiefen Seufzer den Kopf. »Nein, Ernesto ist der Sohn eines wohlhabenden Antiquitätenhändlers, der letzte Woche unter rätselhaften Umständen verschwunden ist. Die Polizei vermutet einen Bootsunfall auf der Lagune, vielleicht bei einem nächtlichen Jagdausflug. Seither ist der Junge bei uns. Seine Mutter hat den Vater schon vor Jahren verlassen und ist nicht bereit, sich um das Kind zu kümmern. Erstaunlich, nicht wahr? Er ist ein so entzückender Junge.«
»Allerdings.« Esther blickte zur Tür, als stünde Barbarossa immer noch dort. »Er ist so ganz anders als – als meine Neffen.«
»Verwandtschaft ist eben keine Garantie für Liebe«, stellte Victor fest. »Obwohl wir alle das gern glauben.« »Wie wahr, wie wahr!« Esther lachte,
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