Herr der Diebe
Conte ihn persönlich treffen möchte. Als Begleiter kann er mitbringen, wen er will, Affen, Elefanten oder euch Kinderchen. Aber er selbst muss auch erscheinen. Der Conte will sich erst ein Bild von ihm machen, bevor er ihm mehr über den Auftrag anvertraut. Schließlich…«, sein Gesicht nahm einen gekränkten Ausdruck an, »… hat er nicht einmal mir Näheres darüber verraten.«
Das wunderte Riccio nicht weiter, aber der Wunsch des Conte, Scipio zu sehen, ließ sein Herz schneller schlagen. »Das, das…«, stammelte er, »… wird Sci… wird dem Herrn der Diebe gar nicht gefallen.« »Nun«, Barbarossa hob die fetten Schultern, »dann wird er diesen Auftrag nicht bekommen. Einen schönen Tag noch, Kleiner.«
»Gleichfalls«, murmelte Riccio, streckte Barbarossas Rücken die Zunge heraus und machte sich beunruhigt auf den Heimweg.
Victor saß auf dem Markusplatz, umgeben von hundert Tischen und tausend Säulen, und trank seine dritte Tasse Espresso. Schwarz mit drei Würfeln Zucker. Schwer umzurühren in der winzigen Tasse. Und so teuer, dass er besser nicht darüber nachdachte. Seit mehr als einer Stunde saß er auf dem harten, kalten Stuhl und musterte die Gesichter der Leute, die sich an seinem Tisch vorbeidrängten. Victor trug natürlich nicht den Bart, den er getragen hatte, als Prosper in ihn hineingestolpert war. Auf einen falschen Bart hatte er diesmal ganz verzichtet, aber auf seiner Nase klemmte eine dicke Brille aus Fensterglas, mit der er etwas beschränkt und völlig harmlos aussah. Zufrieden blickte er an sich herunter. Perfekt, dachte er, perfekte Tarnung: Victor, der Tourist. Schirmmütze, großer Fotoapparat vor der Brust. Es war eine seiner Lieblingsverkleidungen. Als Tourist konnte er seelenruhig Fotos schießen, ohne dass irgendjemand das verdächtig fand. Oder sich unter eine dieser Reisegruppen mischen, die vom Schiff stolperten, fünf Stunden durch die Stadt liefen und dabei alles fotografierten, was alt aussah und ein bisschen Gold am Giebel hatte. Ja, so gefällt mir die Arbeit!, dachte Victor und blinzelte in die tief stehende Sonne. Ihre Strahlen ließen die Fenster der Basilika glitzern, als schmelze das Glas in der Sonne. Auf dem Dachfirst reckten sich die Engel, Gold auf den Flügeln, dem Himmel entgegen, und über dem Haupteingang, zwischen hundert gleißenden Sternen, spreizte sich der geflügelte Löwe. Die meisten Menschen, die zum ersten Mal aus den engen Gassen auf den Markusplatz traten, sahen sich zuerst so verblüfft um, als hätten sie einen märchenhaften Ort wie diesen höchstens in ihren Träumen erwartet. Manche blieben wie verzaubert stehen, als wollten sie niemals mehr weitergehen. Andere bekamen ihre Kindergesichter zurück, während sie hinaufstarrten zu dem funkelnden Glas und dem Löwen zwischen den Sternen. Nur ganz wenige taten so, als berühre sie dies Übermaß an Schönheit nicht, und schlenderten weiter mit steinernen Gesichtern, stolz, dass nichts auf der Welt sie mehr zum Staunen brachte. Victor war nie sicher, ob er diese Leute bedauern oder fürchten sollte. Während er seinen Kaffee umrührte, mit einem Löffel, der viel zu klein für seine Finger war, traten unzählige Menschen auf den Markusplatz, und Victor musterte sie geduldig, einen nach dem anderen. Aber die zwei Gesichter, die er suchte, waren nicht dabei. Tja, wahrscheinlich vertraue ich meinem Glück doch etwas zu sehr, dachte Victor, putzte sich die Nase, die sich schon bedrohlich kalt anfühlte, und bestellte bei dem vorbeihastenden Ober noch einen Kaffee. Immerhin war das Herumsitzen besser als das endlose Gerenne der letzten Tage. Bei den Carabinieri war er gewesen, in den Waisenhäusern, Krankenhäusern, am Bahnhof. Er hatte mit Bootsführern und Vaporettokontrolleuren gesprochen, ihnen das Bild von Prosper und Bo unter die Nase gehalten und zähneknirschend das hundertste Kopfschütteln hingenommen. Wenn Prosper ihn nicht umgelaufen hätte, Victor hätte langsam Zweifel daran gehabt, dass die beiden Brüder jemals in Venedig gelandet waren.
Schluss. Victor spürte schon wieder, wie der Ärger über die verpasste Gelegenheit ihm den Magen zusammenzog. Ja, ja, er hätte nur zupacken müssen, zack, und schon hätte er den Jungen gehabt! Schwamm drüber. Victor tupfte sich gelangweilt einen Klecks Kaffee auf die Nasenspitze. Einem Mann am Nachbartisch gefielen solche Späße offenbar nicht, missbilligend musterte er Victor über seine Zeitung hinweg. Victor schnitt ihm eine Grimasse und
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