Herr der Diebe
während ein Führer ihnen mit gedämpfter Stimme die Mosaiken über ihren Köpfen erklärte.
»Achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig!«, sagte Mosca, als die Gruppe sich endlich entfernte und die Stimme des Reiseführers nur noch leise zu ihnen herüberdrang.
Scipio warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Dann musst du aber schnell gezählt haben«, sagte er und schlug den Vorhang zurück. Vorsichtig, einer nach dem anderen, traten sie wieder ins Freie. »Sieh du nach, Prosper«, flüsterte Scipio, während er und Mosca sich als Schutzschild vor den Beichtstuhl stellten. Zögernd öffnete Prosper die Tür, die für den Priester gedacht war, und schlüpfte in den dunklen Verschlag. Auf der schmalen Sitzbank unter dem Fenster fand er einen versiegelten Briefumschlag und einen Korb mit geflochtenem Deckel. Als Prosper den Korb hochhob, raschelte es darin. Fast hätte er ihn vor Schreck fallen lassen. Scipio und Mosca blickten ziemlich erstaunt drein, als er mit seinem Fund aus dem Beichtstuhl kam. »Ein Korb? Was ist denn dadrin?«, flüsterte Mosca argwöhnisch. »Auf jeden Fall raschelt es.« Prosper hob vorsichtig den Deckel an, aber Mosca drückte ihn mit erschrockenem Gesicht wieder herunter. »Warte!«, zischte er. »Es raschelt? Vielleicht ist da eine Schlange drin?«
»Eine Schlange?«, spottete Scipio. »Wieso sollte der Conte uns eine Schlange geben? Auf so was kommst du nur durch die Geschichten, die Wespe euch ständig vorliest.« Er legte das Ohr an den Korbdeckel. »Stimmt, es raschelt. Aber da klopft auch was«, murmelte er. »Hat schon mal jemand von einer klopfenden Schlange gehört?«
Scipio runzelte die Stirn und öffnete den Deckel gerade so weit, dass er hineinlugen konnte. »Verflixt!«, sagte er und klappte den Korb schnell wieder zu. »Es ist eine Taube.«
Was wollen die in der Basilika?, dachte Victor, als er beobachtete, wie Prosper und Mosca mit Scipio durch das Seitenportal verschwanden. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass die drei sich die Mosaiken angucken wollten. Hoffentlich beklauen sie nicht die Touristen, dachte Victor, dann muss ich Prosper nachher bei den Carabinieri auslösen. Nun ja, Esther Hartlieb würde das vermutlich egal sein. Es würde nur beweisen, wie Recht sie mit ihrer schlechten Meinung über den älteren Sohn ihrer Schwester hatte. Wenn der Kleine als Dieb erwischt würde, wäre das für sie bestimmt ein schwererer Schlag.
Der Kleine… Unauffällig spähte Victor über seine Zeitung zum Löwenbrunnen hinüber. Prosper hatte ihn in der Obhut des Mädchens und des Igelkopfes zurückgelassen. Anscheinend traute er den beiden, sonst hätte er sie bestimmt nicht seinen kostbaren kleinen Bruder hüten lassen. Das Mädchen sprach mit Bo, offenbar versuchte sie ihn zum Lachen zu bringen, aber der Kleine guckte ziemlich mürrisch drein. Genau wie der Igelkopf. Der starrte so düster ins Brunnenwasser, als wollte er sich gleich darin ertränken.
Was mach ich nun?, dachte Victor. Er runzelte die Stirn und faltete die Zeitung zusammen. Ich könnte mir den Kleinen schnappen, aber bevor ich meinen Detektivausweis herausziehen könnte, würde man mich vermutlich schon als Kindesräuber gelyncht haben. Nein, zu viele Menschen. Victor gestand es sich nicht ein, doch es gab noch einen anderen, ganz unvernünftigen Grund, aus dem er sich Bo nicht greifen wollte. Es war zu lächerlich, aber er wollte es Prosper einfach nicht antun, dass sein kleiner Bruder weg war, wenn er wieder aus der Basilika kam. Victor schüttelte den Kopf und seufzte.
Ich hätte den Auftrag nicht annehmen dürfen, dachte er. Was soll das noch werden? Beim Versteckspielen darf man kein Mitleid haben. Und beim Fangenspielen schon gar nicht. Schluss. Du wirst sie ja fangen!, raunte eine leise Stimme in seinem Kopf. Aber nicht hier, vor so vielen Zeugen, sondern in aller Stille. Ganz diskret. So etwas muss sorgsam vorbereitet sein. »Genau!«, brummte Victor. »Jetzt werde ich mir erst einmal ein paar Informationen beschaffen. Zum Beispiel über diese kleine Bande, mit der die beiden herumziehen.« Er zog sich die Schirmmütze etwas tiefer ins Gesicht, vergewisserte sich, dass der Film in seiner Kamera noch nicht voll war, und schlenderte hinaus auf den großen Platz. Nicht zu weit, nur gerade so weit, dass Bo ihn vom Löwenbrunnen aus sehen konnte.
Dann kaufte Victor sich bei einem der fliegenden Händler, die überall herumstanden, eine Tüte Futtermais, füllte sich die Jackentaschen mit den Körnern, griff
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