Herr der Diebe
Kopf ein, als eine Taube sich auf seinem Arm niederließ. Aber als sie anfing, die Körner aus seinen Fingern zu picken, lachte er. So ausgelassen, dass Victor für einen Moment vergaß, warum er da stand und Taubenfutter in den Händen hielt. Erst der Geruch von Haarspray, der ihm in die Nase zog, als eine junge Frau mit mürrischem Gesicht an ihm vorbeistöckelte, erinnerte ihn wieder an seinen Auftrag.
»Wie heißt du?«, fragte Victor und pflückte sich eine graue Feder von der Jacke. Vielleicht irre ich mich ja, dachte er. Diese runden Kindergesichter ähneln sich doch wie zehn Eier in einem Karton. Vielleicht sind die tintenschwarzen Haare echt, vielleicht ist der Kleine nur mit seinen Freunden hier und geht heute Abend zurück zu seiner Mutter. Sein Italienisch ist wirklich ziemlich gut. »Ich? Ich heiß Bo. Und du?« Bo kicherte, als die Taube seinen Arm hinauftrippelte.
»Victor«, antwortete Victor. Und hätte sich fast selbst geohrfeigt. Wieso, Teufel und Dämonen, sagte er dem Kleinen seinen wirklichen Namen? Hatten die Tauben ihm denn sein bisschen Verstand weggepickt? »Bist du nicht noch etwas zu jung, Bo, um dich in diesem Gewimmel allein herumzutreiben?«, fragte er beiläufig und streute Bo noch ein paar Körner in die Hand. »Haben deine Eltern keine Angst, dass du zwischen all den Menschen verloren gehst?«
»Mein Bruder ist doch hier«, antwortete Bo und beobachtete entzückt, wie eine zweite Taube sich auf seinem Arm niederließ. »Und meine Freunde auch. Wo kommst du her? Aus Amerika? Du redest komisch. Ein Venediger bist du jedenfalls nicht, oder?« Victor betastete seine Nase. Sie fühlte sich angepickt an. »Nein«, antwortete er und schob sich die Mütze zurecht. »Ich komm mal von hier, mal von da. Ein bisschen von überall. Wo kommst du her?« Victor sah zum Brunnen hinüber. Das Mädchen hatte den Kopf gehoben und sah sich suchend um.
»Von ziemlich weit weg«, sagte Bo. »Aber jetzt wohn ich hier.« Das »ziemlich« zog er ganz lang, als wollte er Victor damit verdeutlichen, wie weit entfernt dieser Ort war, von dem er kam. »Hier ist es viel schöner«, fügte er noch hinzu und lächelte die Tauben auf seinem Arm an. »Überall sind Löwen mit Flügeln und Drachen und Engel, die passen auf Venedig auf, sagt Prosper, und auf uns, aber viel aufzupassen gibt es da ja nicht, weil hier keine Autos fahren. Deshalb hört man auch besser. Das Wasser und die Tauben. Und man muss nie Angst haben, dass man überfahren wird.«
»Ja, das stimmt.« Victor verkniff sich ein Grinsen. »Man achtet einfach nur ein bisschen darauf, dass man in keinen Kanal fällt.« Er drehte sich um. »Dahinten am Brunnen – sind das deine Freunde?« Bo nickte. »Ich glaube, das Mädchen sucht dich«, sagte Victor. »Wink ihr mal, sonst macht sie sich Sorgen.«
»Das ist Wespe.« Bo winkte ihr mit der taubenfreien Hand zu. Beruhigt setzte Wespe sich wieder auf den Brunnenrand. Aber sie klappte ihr Buch zu und ließ Bo nicht mehr aus den Augen. Victor beschloss, noch einmal den Taubenständer zu machen. Das war am unverdächtigsten. »Ich wohne in einem Hotel direkt am Canal Grande«, sagte er, während die Tauben sich wieder auf ihm niederließen. »Und du?«
»In einem Kino.« Bo fuhr erschrocken zurück, weil einer der Vögel sich in seinem Haar festkrallen wollte. »In einem Kino?« Ungläubig sah Victor auf ihn hinunter. »Beneidenswert. Da kannst du dir ja den ganzen Tag Filme ansehen.«
»Nein, das geht nicht. Der Projektor ist weg, sagt Mosca. Die meisten Stühle auch. Und die Leinwand haben die Motten so zerfressen, dass die nie mehr zu gebrauchen ist.«
»Mosca? Ist das auch einer von deinen Freunden? Wohnst du mit deinen Freunden zusammen?«
»Ja, wir wohnen alle zusammen.« Bo nickte stolz. Victor musterte ihn nachdenklich. Konnte das stimmen? Vielleicht tut der Zwerg nur so unschuldig!, dachte er. Und während ich auf sein Engelsgesicht hereinfalle, erzählt er mir faustdicke Lügengeschichten. Ein Haufen Kinder, die allein lebten? So was sollte es geben. Aber die hier sahen nicht so aus, als ob sie Hunger litten oder unter den Brücken schliefen. Gut, die Knie von Bos Hosen waren gestopft, und das nicht besonders geschickt, und den saubersten Pullover trug er nicht gerade, aber das kam auch bei anderen Kindern vor. Auf jeden Fall sah der Kleine aus, als ob ihm irgendjemand regelmäßig die Haare kämmte und die Ohren wusch. Sein Bruder?
Vielleicht erzählt er mir ja noch ein bisschen mehr, dachte Victor
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