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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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sie in eine Felsenhöhle.
    „Herzlich willkommen“, sagte er mit zitternder Stimme.
    Nyawĩra war von sich selbst überrascht. Alles, was sie Kamĩtĩ sagen wollte, während sie durch das Grasland gelaufen war, war verschwunden: Sie war unfähig zu sprechen. Wenn sie jetzt redete, würde sie die Wärme, die in der Luft lag, verschrecken. Also standen sie einfach da – vom Dunkel des Abends und tiefem Schweigen umfangen – und hielten sich die Hände, als könnten sie beide nicht glauben, dass dieser Augenblick Wirklichkeit war.
    „Ich bin wegen des Honigs des Lebens hier – hast du es nicht so genannt?“, setzte Nyawĩra an, um das Schweigen zu brechen und stellte den Verpflegungskorb an die Felswand.
    „Ja“, erwiderte Kamĩtĩ.
    Beide glaubten, ihre Worte wären das Vorspiel zu ihrem üblichen unbeschwerten Geplänkel, aber sie begannen, einander auszuziehen. Mit funkelnden Augen, schwer atmend, die Körper vor Erwartung gespannt. Er wollte ihr gerade das Hemd ausziehen, als er plötzlich zögerte.
    „Es tut mir leid, aber ich habe keine Kondome hier“, sagte er.
    „Nein, hör nicht auf“, sagte Nyawĩra. „Ich habe welche.“ Dann knöpfte sie ihm die Hose auf.
    Auf dem Boden der Höhle, umfangen von der Dunkelheit, trug es sie über Täler und Hügel. Sie schwebten durch blaue Wolken hoch zu den Gipfeln reiner Verzückung, wo sie, im Raum verloren, das Gefühl hatten, als drehte sich die ganze Welt, bevor sie wieder herabschwebten, einen Regenbogen herunterrutschten, der Erde entgegen, ihrer Erde, wo das Gras, die Pflanzen und die Tiere ein Schlaflied der Stille zu singen schienen. Nyawĩra und Kamĩtĩ schliefen, jetzt eng umschlungen, den Schlaf von Säuglingen bis zum Anbruch eines neuen Tages.

21
    Sie erwachten, als die Sonne aufging. Sie froren. Wie Diamanten glitzerten Tautropfen auf ihren Kleidern, und keiner von beiden konnte sich erinnern, wie oder wann sie aufgewacht waren, um sich anzuziehen. Sie schüttelten den Tau ab.
    „Zeig mir, wo ich mir das Gesicht waschen kann“, bat Nyawĩra.
    Er führte sie an einen Bach. Dort bückten sie sich und wuschen sich. Das Wasser war kalt und klar, fast betäubte es. Dann kehrten sie in ihr Versteck zwischen den Felsen zurück.
    Nyawĩra hatte gekochte Eier mitgebracht, Zucker, etwas Kakao, Streichhölzer, einen Wasserkessel, einen kleinen Kochtopf. Nachdem sie ein paar Früchte gesammelt hatten, die um sie herum noch im Überfluss wuchsen, bereiteten sie sich ein einfaches Mahl und unterhielten sich wie in alten Zeiten. Es war ein fröhliches Gespräch, das ihren Seelen gut tat und sie immer wieder zum Lachen brachte. Kamĩtĩ dankte Nyawĩra und einer reichen Natur für das Essen.
    „Die Natur mag ergiebig sein“, entgegnete Nyawĩra, „aber trotzdem ist es gut, einen Speicher anzulegen für den Fall, dass sich die Natur einmal erkältet. Soviel ich weiß, gab es früher kein Haus, das diesen Namen verdiente, wenn es keinen Speicher hatte. Nun schau dir das heutige Aburĩria an. Wie viele Haushalte besitzen einen Speicher? Keiner, weil es nichts gibt, was sie speichern könnten. Komme ich vom Thema ab? Ich nehme an, es ist das Bild eines Eremiten, der sich mit Tieren um Honig und wilde Beeren schlägt, das mir zusetzt.“
    „Musst du immer urteilen?“, fragte Kamĩtĩ. „Du hättest Jura studieren und Anwältin werden sollen.“
    „Im Augenblick bin ich Anwältin. Anwältin des Volkes …“
    „Und ich? Ein selbst ernannter Anwalt der Rechte von Tieren und Pflanzen etwa?“, meinte Kamĩtĩ lachend. „Aber du wirst mir zustimmen, dass mein Urteilen selbstloser ist, weil Tiere und Pflanzen keine Zunge haben, um für sich sprechen zu können.“
    „Was willst du damit sagen?“
    „Dass ich mit dir einen Rundgang machen will, damit du meine Freunde kennenlernst, alle Bewohner des Waldes.“
    „Freunde unter den Bäumen und Tieren?“
    „Genau, und bei den Vögeln und den Pflanzen und den Bergen und den Tälern.“
    „Dann freue ich mich auf die Tour. Aber sprich nicht für die Bewohner – sie sollen für sich selber lügen“, sagte Nyawĩra.
    „Dann machen wir mal einen Plan für den ersten Tag. Was möchtest du sehen?“
    „Ich werde gehen, wohin du mich führst, und sagen, es ist gut“, antwortete sie.
    Über Tajirika verloren sie den ganzen Tag kein Wort. Ebenso wenig über den Herrn der Krähen oder Kamĩtĩs plötzliches Verschwinden aus Santalucia und sein Abtauchen in der Wildnis. Es war, als hätten sie ein Abkommen

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