Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
Vom Netzwerk:
geschlossen, die Ereignisse in Eldares nicht in ihre Vereinigung und die mit der Natur eindringen zu lassen. Hier in der freien Natur fühlten sie sich gut und mit sich im Reinen.
    Sie waren über vieles einer Meinung. Oft unterbrachen sie ihr Gespräch mit Liedern und Geschichten und vergnügtem Geplänkel. So zum Beispiel, als ihnen nacheinander eine Zebraratte und eine Feldmaus über den Weg liefen. Sie blieben stehen und stimmten ein Lied über diese Tiere an:
    Zebraratte
    und Feldmaus
    zogen einst
    zum Speicher
    eines Verwandten
    um zu essen
    Heraus kamen
    neun Ziegen
    sehr jung
    und waren bald zehn
    Das war ein Lied, mit dem Kinder bis zehn zählen lernten, wobei die Logik sich stärker aus dem Rhythmus als dem eigentlichen Sinn der Wörter ergab. Wieder lachten sie, und als sie einander in die Augen sahen, fehlten ihnen plötzlich die Worte. Schweigend gingen sie weiter, erfüllt von dem Licht, das sie in den Augen des anderen sahen.
    Überall war Liebe: in den Ästen der Bäume, in denen die Nester der Webervögel hingen; im Farn, in dem der Witwenvogel zwei lange Schwanzfedern gelassen hatte; im Murmeln des Eldares River, der ostwärts floss, bevor er sich in einen donnernden Wasserfall verwandelte; in den Sonnenstrahlen, die durch den Wasserfall glitzerten und sich in die Farben des Regenbogens auflösten; im stillen Wasser eines kleinen Sees, der durch den Fluss gebildet wurde, in dem Kamĩtĩ und Nyawĩra nun badeten und schwammen und einander jagten und sich gegenseitig bespritzten; im Zweizahn, in der Fingerhirse und anderen Pflanzen; in den Blumen, deren Blütenstaub sich an ihren Kleidern festsetzte; in den Bewegungen der Stachelschweine und den Flügeln der Perlhühner; in den Feldhühnern, die sich eilends davonstahlen, nachdem sie einen Blick auf das Paar geworfen hatten; in den Bienen und Schmetterlingen, die von Blume zu Blume tingelten; im Gurren der Tauben; in den Balzrufen der Frösche im Fluss, die zwischen Schilf und Wasserlilien saßen. Liebe war in den Kletterpflanzen, die sich um die Baumstämme wanden; ja, auch in den Brombeeren, von denen sie pflückten, um sie sich gegenseitig in den Mund zu schieben. Liebe war im sanften Wind, der leise die Blätter rauschen ließ. Liebe war überall in diesem Wald, doch weder Nyawĩra noch Kamĩtĩ sprachen dieses Wort aus.
    Später, als sie am Boden saßen, gegen den Stamm einer Sykomore gelehnt, nippten sie vom Kakao, meist schweigend, weil sie beide in Gedanken versunken waren, und es waren bei beiden dieselben Gedanken. Und dann redeten sie wieder unbeschwert miteinander. Die Liebe war ihnen hierher gefolgt, und jetzt beleuchtete der Mond die Blätter und warf ihre Schatten auf den Boden und über ihre Körper. Dennoch konnten sie sich die Liebe immer noch nicht eingestehen, auch im Geheimen nicht sich selbst.
    Aber sie fühlten sich von einem Frieden umfangen, der jegliches Verstehen überstieg; von einem Frieden, der von diesem Wald ausging, obwohl die Zikaden zirpten und in der Ferne die Hyänen heulten; und als sich Nyawĩra und Kamĩtĩ ansahen, zogen ihre Blicke sie zueinander hin, und Kamĩtĩs Finger wanderten zu Nyawĩras Brustwarzen, die die Farbe von Brombeeren hatten.
    Sie glitten in ein wortloses Wunder, und selbst, als sie am Morgen erwachten, lagen sie sich noch fest in den Armen, als wollten sie nie wieder voneinander lassen.

22
    Trotzdem war bis zum Nachmittag eine gewisse Kühle zwischen ihnen aufgekommen. Nicht, weil sich ihre Zuneigung geändert hatte, sondern weil sie viele Dinge zurückgestellt hatten, Dinge, die nun nicht länger warten konnten.
    Kamĩtĩ bemühte sich, die Fragen zu beantworten, die Nyawĩra plagten. Der Brief, den er ihr geschrieben hatte, war ihr unverständlich geblieben.
    „Es war nicht so, dass ich bewusst entschieden habe, der Heilerei, der Wahrsagerei und dem Geld den Rücken zu kehren, um ab sofort das Leben eines Einsiedlers in der Wildnis zu führen“, versuchte Kamĩtĩ zu erklären.
    Er sprach in einem ruhigen Ton, weder aufgeregt noch niedergeschlagen, weder traurig noch fröhlich; vielleicht ein wenig in sich gekehrt, als würde er, während er sich an Nyawĩra richtete, ein Selbstgespräch führen.
    „Wahrscheinlich gab es mehrere Gründe, vielleicht auch nur einen einzigen. In Wahrheit ist mir das selbst alles andere als klar. Ich habe die Rolle des Herrn der Krähen nicht freiwillig gespielt, ich wurde hineingedrängt. Du weißt, wie die Sache angefangen hat. Wie war noch sein Name –

Weitere Kostenlose Bücher