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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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eine andere Vorgehensweise: Wie konnte man die Schlangen nutzen, um dem Herrscher die Schau zu stehlen?
    Bis jetzt waren Kirchen, Moscheen und andere genehmigte Orte der Verehrung die einzigen freien Räume in Aburĩria gewesen. Hinzu kamen Schnapsläden, Bars und andere genehmigte Zentren des Alkoholkonsums sowie Gefängnishöfe und die Zellen der Polizeistationen. Wo immer die Autorität ihre furchterregende Macht ausübte, war sie unbesorgt gegenüber den Worten der unbewaffneten Häftlinge. Auch die Warteschlangen der Arbeitslosen bildeten einen solchen demokratischen Raum, in dem Versammlungen keine polizeiliche Erlaubnis brauchten. Die Bewegung entschied deshalb, eine Schlange zu bilden, wenn sie sich beraten wollte. Sie würden die Menschenschlangen zur politischen Mobilisierung nutzen.
    Die Mitglieder beschlossen außerdem, die Weihezeremonie des Herrschers um jeden Preis zu stören, wie zuvor seine Geburtstagsfeier. Zusätzlich zu ihrer Aufgabe, Informationen über Marching to Heaven zu sammeln, erhielt Nyawĩra den Auftrag, alles über die Pläne der Regierung für den Einweihungstag herauszubekommen.
    Nyawĩra waren die Sitzungen und Aufgaben sehr willkommen. Sie lenkten sie von ihrem inneren Aufruhr und ihren Zweifeln an Kamĩtĩ ab. Aber schon kurz nach dem Treffen wurde ihr Seelenfriede erneut von seinen vielen Gesichtern bedrängt, mit einer Intensität, die fast schon an Rache grenzte. Dennoch glaubte sie fest daran, dass er ein Mann von Weisheit und Integrität war, den die Bewegung für sich anwerben könnte. Aber wie hatte er einfach so fortgehen können, ohne sich zu verabschieden? Wie sollte sie ihm trauen?
    Früher hatte Nyawĩra, wenn sie niedergeschlagen war, Gitarre gespielt. Ihr Klang hatte sowohl nach ihrem Autounfall als auch nach ihrer Scheidung wie eine Therapie gewirkt. Auch jetzt nahm sie die Gitarre und versuchte, die Saiten anzuschlagen. Aber sie hatte das Gefühl, als würden die Töne ihren Schmerz vertiefen, statt ihn zu lindern. Sie hängte sie wieder an die Wand.
    Dann packte sie plötzlich die Wut. Was hatte sie so blind gemacht zu glauben, Kamĩtĩ sei anders als andere Männer? Ich habe ihn in mein Haus gelassen, ihm sogar Raum für seinen Hexenunsinn gewährt, und wie dankt er mir dafür? Die Wut verlieh ihr neue Energie. Sie musste sich wieder in den Griff bekommen.
    Am fünften Morgen erwachte sie, kochte Tee und setzte sich an den Tisch. Sie wollte nicht zum Sofa hinübersehen, auf dem Kamĩtĩ immer geschlafen hatte. Nichts, keine Erinnerung an sein Lachen, sollte sie von ihrem Entschluss ablenken. Sie holte den Brief hervor, den sie ihm geschrieben hatte, und nachdem sie ihn noch einmal gelesen hatte, zerriss sie ihn ruhig in winzige Stücke, von denen einige neben dem Tischbein auf den Boden fielen. Dann dachte sie, es wäre besser, alle Papierfetzen zu verbrennen, damit die Wörter für immer verschwänden, so als wären sie nie gedacht oder geschrieben worden.
    Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, fiel ihr Blick auf einen Zettel mit einer anderen Handschrift. Er war von Kamĩtĩ. Er hatte ihr einen Brief geschrieben und musste ihn auf den Tisch gelegt haben. Da er heruntergefallen war, hatte sie ihn nicht bemerkt.

20
    Es hatte eine Zeit gegeben, in der das weite Land rund um Eldares der Lebensraum wilder Tiere war: Nashörner, Elefanten, Flusspferde. Damals stießen Reisende häufig noch auf Löwen und Leoparden, die im Gras auf Beute unter den weidenden Herden der Zebras, Dik-Diks, Ducker, Buschböcke, Gazellen, Impalas, Kudus, Elands, Warzenschweine, Kuhantilopen und Büffel lauerten. Sehr oft sah man auch Giraffen, die durch das Grasland galoppierten oder einfach über den Dornenbäumen aufragten. Ab und an flitzte ein Strauß über die Ebene, und hatte der Reisende Glück, fand er vielleicht in einem Sandnest ein frisch gelegtes Straußenei. Aber seither hat sich vieles verändert. Die Wildtiere haben sich aus dem Grasland zurückgezogen und es den ausgezehrten Kühen und Ziegen überlassen, deren Rippen in den Dürrezeiten, wenn das Gras vollständig verdorrt ist, deutlich hervortreten.
    Die Grasebene endet unvermittelt am Fuß mehrerer Höhenzüge, die einen riesigen Halbkreis bilden. Die Bergrücken verschwinden oft im Dunst, sodass sie aus der Ferne wie ein einziger Gebirgskamm aussehen, und erst wenn man am Fuß angekommen ist, kann man ihren natürlichen, stufenförmigen Aufstieg in den diesigen Himmel bewundern. Jeder Höhenzug besteht aus mehreren

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