Herr der Krähen
der seinen Ehrenplatz behalten wollte. Selbst Demut und Selbstverleugnung, wie kriecherisch auch immer, konnten den Sturz nicht verhindern. Denn während seines langen Aufstiegs zur Autorität letzter Instanz war der Herrscher selbst zum unvergleichlichen Meister von Demut und Selbsterniedrigung geworden.
Über seinen Aufstieg zum Gipfel der Macht sind viele Berichte im Umlauf. Einer Version zufolge erscheint er in der Historie als Meister blinder Demut vor der Macht. In der Kolonialzeit war er bekannt dafür, sich gegenüber jedem Weißen, mit dem er in Kontakt kam, sehr unterwürfig und höflich zu verhalten. Alle Berichte der weißen Siedler und Missionare beschreiben ihn als „guten Afrikaner“ und später als „unseren Mann“. Ob in der Schule, in der Regierungsbürokratie oder in der Armee, sein devotes Verhalten beförderte seinen Aufstieg. Er hatte das High-School-Diplom nicht geschafft, wurde aber trotzdem zum stellvertretenden Leiter einer Schule für Afrikaner auf einem Siedlerhof in Westaburĩria berufen. Als er erkannte, dass die Schulleitung für ihn der Gipfel des Erreichbaren im Bildungswesen war, gab er den Beruf auf und trat der Kolonialarmee bei, wo er sich selbst zum Militär-Pressesprecher ernannte. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Flugblätter zu verfassen, in denen die Heldentaten der Kolonialarmee gegen die nationalistischen Aufrührer in höchsten Tönen besungen wurden. Er wurde zum Korporal befördert, und mehr wäre auch hier nicht möglich gewesen, hätten die nationalistischen Rebellen das koloniale Mutterland nicht dazu gezwungen, seine Strategie zu überdenken. Als die weißen Siedler begriffen, dass sie die Unabhängigkeit Aburĩrias nicht länger verhindern konnten, wurde der zukünftige Herrscher bei der anstehenden Neuordnung der Dinge ein weiteres Mal zu „ihrem Mann“. Die Wahl fiel ganz natürlich auf ihn, die Vorbereitungen aber erforderten sorgfältige Planung, die mehrere Jahre in Anspruch nahm. Zunächst hängten sie ihm ein nationalistisches Mäntelchen um. Obwohl die künftige Exzellenz damals nur einfacher Journalist war, erlebte er innerhalb weniger Wochen seinen Aufstieg im Militär vom Korporal zum Sergeanten und zum Sergeant Major. Darum verfasste die zukünftige Exzellenz ein Statement in sorgfältig gesetzten Worten, das sich vollkommen von den Flugblättern unterschied, die er bislang geschrieben hatte. Jetzt forderte er bessere Arbeitsbedingungen für die Schwarzen in der Armee; er schwor, andernfalls seinen Posten beim Militär zu verlassen und auf versprochene Ehren zu verzichten, um für die Rechte seines Volkes zu kämpfen. Eine Woche später nahm er seinen Abschied und verkündete die Absicht, seine eigene nationalistische Partei zu gründen.
Diese Partei würde nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen der schwarzen Aburĩrier in der Armee und die Beförderung von Schwarzen in höhere Dienstgrade kämpfen, sondern sich auch den Belangen all der kleineren ländlichen Gemeinden widmen und für deren Recht eintreten, traditionelle Kleidung und Waffen wie Pfeil und Bogen, Speere und Keulen zu tragen. Lieber würden sie auf Schulen und sogar angemessene Weideflächen verzichten, als von diesen kulturellen Symbolen zu lassen, die eminent wichtig für die Verteidigung ihrer Tradition waren. Diese überlieferten Werte waren nun von größeren ethnischen Gemeinschaften bedroht, meistens unterstützt von den sogenannten progressiven Parteien, die sich mit Terroristen zusammengetan hätten, um „Freiheit jetzt“ zu fordern. Freiheit jetzt? Sie hätten lediglich im Sinn, sich nach dem Abzug der Weißen die Weideflächen und Wasserlöcher der kleinen Gemeinschaften einzuverleiben und ihre Kultur zu zerstören. Während diese Parteien Land und Freiheit verlangten, wolle die Partei des künftigen Herrschers Freiheit in Würde.
Er spottete über die Idee eines Fahrplans zur Freiheit. Das koloniale Mutterland war glücklich. Die weißen Siedler waren glücklich. Die Schwarzen in der Kolonialarmee jubelten. Jetzt hatten sie einen Helden und mussten um ihren Platz innerhalb der neuen schwarzen Ordnung nicht mehr fürchten.
Als die Unabhängigkeit verhandelt wurde, scharten sich die weißen Siedler hinter diesem Mann und seiner Partei, gaben heimlich Geld, übten Geheimdiplomatie und drängten ihn zu fordern, als Repräsentant der kleineren Gemeinschaften Stellvertreter des ersten Präsidenten werden zu müssen, da dieser aus einer der größeren Gemeinschaften
Weitere Kostenlose Bücher