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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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stamme. Sollte es nicht dazu kommen, sollten die kleineren Gemeinschaften die Selbstverwaltung verlangen und sich, falls nötig, abspalten. Am wichtigsten aber war, dass er und seine Partei nichts mit den Aufrührern zu tun hatten. Die ehemalige Kolonialarmee, die bereits vor Beginn der Verhandlungen in Nationalarmee umbenannt wurde, machte ebenfalls ihre Präferenzen deutlich. Die nationalistischen Aufrührer wurden von den direkten Verhandlungen in Europa ausgeschlossen. Alles Weitere folgte einer vorherbestimmten Logik. Warum nicht Gespräche zwischen den „Hauptparteien“ führen, um künftig ethnische Auseinandersetzungen zu vermeiden? Das Ergebnis war vorauszusehen. Die Übereinkunft, alle nationalistischen Parteien zu einer Einheitspartei zu vereinigen, um die Harmonie zwischen den großen und kleinen ethnischen Gruppierungen zu sichern, wurde allseits als Triumph der Mäßigung gefeiert, vor allem vom ehemaligen kolonialen Mutterstaat. Der künftige Herrscher war jetzt der zweite Mann hinter dem Ersten Herrscher, einem Mann in fortgeschrittenem Alter.
    Das ist eine Version von vielen. Doch alle stimmen in einem Punkt überein: Der Aufstieg des Herrschers zur Macht hatte etwas mit seiner Allianz mit der Kolonialmacht und den weißen Kräften dahinter zu tun. Einig ist man sich auch, dass er die Selbsterniedrigung als Verhandlungsstrategie bei jeder Person anwandte, deren Autorität die seine überstieg.
    Im Umgang mit dem Ersten Herrscher der Freien Republik Aburĩria erniedrigte er sich auf jede erdenkliche Art, nahm von seinem neuen Chef alles hin, trat als Vizepräsident buchstäblich auf der Stelle, nutzte aber seine Zeit. Seine Fähigkeit, auch die größte Beleidigung zu schlucken, wurde legendär, und niemand, der ihn vor dem Chef knien, kriechen und zusammenzucken sah, erkannte die spätere Größe dieses Mannes.
    Aber je mehr er sich vor seinen Vorgesetzten krümmte, desto mehr erwartete er dasselbe von seinen Untergebenen, um seine tief sitzenden Selbstzweifel zu mildern. Dieses Bedürfnis nach Bestätigung mündete in eine unerbittliche Gewalt gegen Schwächere. Kaum war er nach dem mysteriösen Tod des Ersten Herrschers an die Macht gelangt, verlangte er eine Liste aller Häftlinge, die auf einen Gnadenakt warteten, und unterzeichnete den Befehl zu ihrer sofortigen Hinrichtung. Er begriff, dass seine Unterschrift auf einem Papier oder ein Wort aus seinem Mund das unmittelbare Ende eines Lebens bewirken konnten, und glaubte fortan an seine Allmacht. Jetzt war er der unumschränkte Herrscher.
    Was jedoch selbst die ihm am nächsten Stehenden damals nicht erkannten, war, dass das Schlimmste noch bevorstand. Sein Blutdurst offenbarte sich, als eine Splittergruppe der Einheitspartei die Sozialistische Partei gründete und bei den einfachen Leuten schnell eine Anhängerschaft gewann. Zu dieser Zeit war der Kalte Krieg in vollem Gange und seine Freunde im Westen verlangten, etwas dagegen zu unternehmen. Unverzüglich erklärte er Aburĩria zum Einparteienstaat. Die Einheitspartei erhielt den Namen Ruler’s Party und wurde zur einzigen legalen politischen Kraft des Landes. Die Führer der sozialistischen Splittergruppe gingen in den Untergrund, nachdem sie angekündigt hatten, zu den Waffen zu greifen und sich die Unterstützung der Kubaner und Russen zu holen. Einige behaupten, die Sozialisten hätten sehr unvorsichtig und verantwortungslos gehandelt und seien auf die Folgen schlecht vorbereitet gewesen. Andere haben jedoch anhand von Dokumenten bewiesen, dass der Ruf zu den Waffen eine Erfindung des Herrschers war. Jedenfalls brauchten ihn seine Freunde im Westen, damit er die Rolle des Führers von ganz Afrika und der Dritten Welt einnahm, denn Aburĩria war für sie von strategischer Bedeutung, um eine weltweite Vorherrschaft der Sowjets einzudämmen. Der Herrscher beschuldigte die Sozialistische Partei, ein Glied in der Kette sowjetischer Ambitionen zu sein. Aburĩria habe nicht gegen den westlichen Kolonialismus gekämpft, um nun unter dem kommunistischen Kolonialismus des Ostens zu enden, deklamierte er. Es war das erste Mal, dass er die Phrase „gegen den westlichen Kolonialismus gekämpft“ in einem positiven Kontext verwendete.
    Es wird berichtet, er habe in nur einem Monat eine Million aburĩrischer Kommunisten niedermetzeln lassen. Das brachte ihm im Westen höchsten Respekt ein. Als allseits geschätzter afrikanischer Führer erhielt er zahlreiche Einladungen von Königen, Königinnen und

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