Herr der Krähen
wir einfach, ich strafe das Böse, nicht die Bösen. Ich arbeite als Heiler. Ich heile verletzte Körper und bedrängte Seelen. Ich sehe Dinge, die vielen verborgen bleiben. Ich habe mir das Weissagen nicht ausgesucht, es hat mich ausgesucht.“ Er berichtete seinem Vater kurz, wie es zu dem Schrein gekommen war.
Während Kamĩtĩ die Geschichte erzählte, wurde sein Vater immer ernster, um dann plötzlich aufzustehen und sich zu entschuldigen. Als er nach einer Weile zurückkam, wirkte er entspannter.
„Hör zu, mein Sohn“, begann sein Vater, „der Mensch kann seinen Willen nicht gegen den Willen Gottes stellen. Du fragst dich vielleicht, warum ich so ernst geworden bin, nachdem ich mich davor fast zu Tode gelacht habe. Zuerst habe ich geglaubt, du machst einen Scherz, deshalb habe ich deine Worte mit Lachen aufgenommen. Aber als du länger geredet hast, wurde mir klar, wie ernst es dir ist, und ich habe fragend in mich selbst hineingeschaut. Mir fiel ein, dass du mich einmal nach der Geschichte unserer Familie gefragt hast. Ich weiß nicht mehr genau, warum du das wissen wolltest. Damals habe ich nur andeutungsweise etwas zur seltsamen Vergangenheit und dem Schicksal unseres Familienklans gesagt. Aber jetzt will ich es dir erzählen. Unser Mĩtĩ-Klan war einmal sehr mächtig und einflussreich. Doch im Verlauf der Jahre wurde er durch Sklavenjagd, koloniale Abenteuer und Weltkriege auseinandergerissen. Wir haben uns nach Frieden gesehnt, aber immer nur die Schrecken des Krieges bekommen. Was könnten wir heute sein, wenn wir nicht in alle vier Winde verstreut worden wären! Verschüttetes Wasser kann man nun mal nicht mehr auflöffeln.
Wir stammen zum Teil von Jägern ab, die meistens im Wald lebten und ihn sehr gut kannten. Fast alle von ihnen waren Heiler. Es gab nicht eine Krankheit, gegen die die Natur nicht die erforderlichen Lebenssäfte bereitstellte. Und sie waren nicht nur Heiler, sondern besaßen mitunter die Gabe, Dinge zu sehen, die dem gewöhnlichen Auge verborgen blieben. Manche konnten sogar fliegen wie die Vögel. Nimm deinen Großvater, Kamĩtĩ wa Kĩenjeku, dessen Namen du trägst! Manchmal fand er sich auf einem Berggipfel wieder, den kein Mensch erklimmen konnte. Oder er trieb mitten in einem See, obwohl er gar nicht schwimmen konnte. Ich habe dir seine Geschichte nie erzählt, weil ich nicht wollte, dass du in seine Fußstapfen trittst. Wir haben uns aufgeopfert, dich in die Schule geschickt, damit genau das nicht passiert. Und du hast mir heute eine wichtige Lehre erteilt. Oder vielmehr hast du mich an etwas erinnert, das man nie vergessen sollte: Der Wille Gottes wird immer über die menschlichen Vorsätze siegen.“
„Wie ist mein Großvater gestorben?“, wollte Kamĩtĩ wissen. In der Vergangenheit hatte er nur ausweichende Antworten bekommen, wie: Er starb in hohem Alter, bei einem Unfall oder an einer Krankheit. Jetzt antwortete sein Vater direkt: „Dein Großvater Kamĩtĩ wa Kĩenjeku war ein heiliger Seher, ein spiritueller Führer, der mit den Kräften zusammenarbeitete, die im Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten kämpften.
Er lebte bei den Widerstandskämpfern in den Bergen, lehrte sie, untereinander Frieden zu halten, schlichtete Konflikte, führte Einheiten in den Kampf und reinigte sie vom Bösen, nachdem sie auf den Feind getroffen waren. Er kannte jeden Pfad, jede Pflanze, jedes lebendige Wesen. Keiner kannte sich im Wald besser aus als dein Großvater. Die Briten haben ihn eines Tages erschossen, aber seine Leiche wurde niemals gefunden. Einige behaupten, er sei immer noch am Leben und sein Geist würde über Aburĩria schweben und dafür sorgen, dass die Wahrheit über unsere vergangenen Taten nie in Vergessenheit gerät. Du siehst also, der menschliche Wille kann die Vorsehung Gottes nicht außer Kraft setzen.“
„Warum bist du nicht auch Seher geworden?“, fragte Kamĩtĩ.
„Mein Sohn“, antwortete sein Vater, „zum Seher wird man von Kräften erwählt, die außerhalb von uns liegen.“
„Und woher weiß man, dass man auserwählt ist?“
„Bei uns werden die Auserwählten mit einer Muschel in der Hand geboren. Und du, mein Sohn, hieltest bei deiner Geburt eine Muschel ganz fest in deiner kleinen Faust.“
Dieser Offenbarung folgte Schweigen. Jeder versank in seinen eigenen Gedanken über das soeben Gesagte. Dann fragte Kamĩtĩ seinen Vater, warum ihm nicht gesagt wurde, dass er als Auserwählter auf die Welt gekommen war. Warum habe man ihm
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