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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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nicht erlaubt, sich der Berufung seines Großvaters anzuschließen?
    „Jeder Segen hat seinen Preis: Ich wollte nicht, dass mein einziges Kind diese Last schultert, solange es selbst nicht dazu bereit war …“
    „Und worin besteht dieser Preis?“
    „Du darfst, mit Ausnahme der Kleider, die du trägst, des Essens, das du zu dir nimmst, und des Hauses, in dem du wohnst, deine Gabe nicht dazu verwenden, irdischen Reichtum zu erwerben. Kleider, Essen und ein Dach über dem Kopf, mehr nicht.“
    „Und was, wenn so jemand dennoch Reichtum erwirbt?“
    „Dann kann alles Mögliche geschehen. Der Seher könnte eines Morgens erwachen und sich in einem unbekannten Land wiederfinden, weit weg von seinem Besitz, Verwandten und Freunden, einsam unter Fremden, ein Prophet im Exil. Oder er erwacht und stellt fest, dass sein Haus in Flammen steht. Der Wahre leidet, um zu erfahren, was wahres Leid ist. Er erlebt die Not, um zu wissen, was wahre Not ist. Der Seher lebt in Selbstverleugnung, um anderen zu dienen. Ich hatte gehofft, dir diese Last von den Schultern nehmen zu können, damit du wie ein normaler Mensch leben kannst. Aber wie du siehst, waren meine Bemühungen erfolglos. Gottes Wille siegt.“
    „Aber welch größeren Reichtum könnte ich besitzen als einen gesunden Körper und eine von allem Übel gereinigte Seele?“, hielt Kamĩtĩ seinem Vater entgegen.
    In diesem Augenblick trat seine Mutter Nũngari ein, hörte die letzten Worte, schimpfte Kamĩtĩ liebevoll:
    „Es gibt keinen größeren Reichtum als ein eigenes Zuhause. Ein Zuhause heißt Mann, Frau und Kinder. Oder soll ich erst Großmutter werden, wenn ich unter der Erde liege?“
    „Mutter, muss ich dich daran erinnern, dass meine Flamme mich abgewiesen hat?“, antwortete Kamĩtĩ scherzend.
    „Wer ist diese Flamme, die du nie mit nach Hause gebracht hast, damit sie das Herz deiner Mutter erhellt?“
    „Margaret Wariara. Vielleicht sollten wir eine Vereinbarung treffen? Warum gehst nicht du zu ihr und überredest sie?“, fügte Kamĩtĩ lachend hinzu.
    Seine Eltern schwiegen bedrückt.
    „Was ist los?“, fragte er.
    „Weißt du es nicht?“
    „Was?“
    „Margaret Wariara ist nach Hause gekommen, völlig ausgelaugt, ohne jede Energie. Sie hat hier ihren letzten Atemzug getan, vor den Augen des ganzen Dorfes.“
    In der Nacht konnte Kamĩtĩ kaum schlafen, Bilder von Wariara gingen ihm durch den Kopf. Als am nächsten Morgen ein junger Mann vorbeikam, mit dem er die Schule besucht hatte, und ihn fragte, ob sie nicht einen Spaziergang durch das Dorf machen wollten, schloss sich Kamĩtĩ sofort an. Ein Spaziergang durch das Dorf, ein Spaziergang durch den ländlichen Frieden, ein Spaziergang, der die Bilder einer glücklichen Kindheit heraufbeschwor, würde Schmerz und Verlust vertreiben. Sie dachten an die früheren Zeiten und erinnerten sich der Namen von diesem und jenem, von all ihren Kameraden aus der Grund- und Mittelschule. Aber der Spaziergang machte seine Trauer nur größer. Welchen Namen er auch erwähnte, sein Freund zeigte wortlos auf ein Grab. Männer und Frauen seines Alters, einfach weg, einfach so. Schließlich hörte er auf zu fragen. Die Antworten lagen in den vielen alten und den frisch aufgehäuften Gräbern rund um das Dorf, Opfer ein und desselben tödlichen Virus’.
    „Es ist längst keine Angelegenheit der Ballungszentren mehr“, berichtete Kamĩtĩ Nyawĩra nach seiner Rückkehr. „Es ist schrecklich, wenn die Alten die Jungen zu Grabe tragen müssen. Noch schrecklicher jedoch ist es, wenn es weder Alte noch Junge mehr gibt, die einander bestatten könnten.“

9
    Für Nyawĩra war die Zeit, in der Kamĩtĩ in Kĩambugi und sie der alleinige Herr der Krähen war, sehr anstrengend. Es kamen so viele Klienten mit Problemen von Körper, Seele und Herz, dass sie kaum Zeit fand, die Zeitung zu lesen. Sie schwor sich, Kamĩtĩ nie wieder so lange wegfahren zu lassen. Einen Tag vielleicht, aber niemals zwei volle Wochen!
    Eines Morgens sah sie im Wartezimmer einen Klienten, der die Eldares Times las, und konnte nicht umhin, einen Blick auf die Schlagzeilen zu werfen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und hatte das Gefühl, als würde ihr Herz versagen. Sie rieb sich die Augen, um klarer zu sehen, aber mit ihren Augen war alles in Ordnung.
    Auf dem Foto erkannte sie ihren Vater. Er stand neben Sikiokuu. Die Schlagzeile lautete: EIN VATER AN SEINE TOCHTER: KOMM NACH HAUSE, SONST … Sie war kurz davor, den Kunden zu bitten, ihr

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