Herr der Krähen
dass diese Elendshütten wie in Eldares gleich neben Herrenhäusern aus Ziegeln, Stein, Glas und Beton standen. In der Umgebung der kleinen und größeren Städte sah es ähnlich aus: Riesige Plantagen mit Kaffee, Tee, Kakao, Baumwolle, Sisal und Kautschuk grenzten an ausgelaugte Landstriche, die von armen Bauern bewirtschaftet wurden. Kühe mit prall gefüllten Eutern weideten auf üppigem Land, während andere ausgemergelt über dornige und steinige Böden zogen.
Ich bin also nicht allein, hörte er sich zu seinem Vogel-Ich sagen. Vielleicht sollte er seine menschliche Daseinsform aufgeben und ein Vogel bleiben, der mühelos durch den Äther segelt und in der frischen Luft des Himmels badet. Doch dann musste er niesen, weil ihm die Abgase der Fabriken in der Nase stachen. Gibt es denn weder im Himmel noch auf der Erde einen Ort, an dem ein Mensch von diesem Gift verschont bleibt? Ein wenig verwirrt überlegte er, vorerst zu seinem in der Sonne liegenden Körper zurückzukehren, um die Schrecken des Tages zu überdenken und sich zu erholen. Erst dann wollte er entscheiden, in welchem Körper er den Rest seines Lebens zubringen sollte. Was aber, wenn sein Körper inzwischen völlig von der Sonne ausgedörrt worden war? Bei diesem Gedanken nutzte er seine Flügel und eilte nach Eldares zurück.
Er kam keine Sekunde zu früh. Ein Abfallkipper war am Fuße des Müllberges vorgefahren. Er wollte wieder in seinen Körper schlüpfen, hielt sich aber zurück und schwebte noch etwas in der Luft, um zu sehen, was sie mit seiner Hülle anstellen würden.
Der Fahrer und zwei Männer stiegen aus dem Müllwagen und betrachteten einige Sekunden den Körper. Dann bückte sich einer, legte sein Ohr auf die Brust und erklärte ihn für tot, was eine Diskussion auslöste, wie sie mit dem Leichnam verfahren sollten. Die Polizei wollten sie nicht rufen – die Bullen würden einen Tag brauchen, bevor sie kämen, und schließlich hätten sie zu arbeiten. Außerdem wollten sie keinesfalls in endlose Gerichtsverfahren verwickelt werden. Es war auch möglich, dass sie des Mordes anklagt und ins Gefängnis gesteckt würden, man sie einen Kopf kürzer machte oder sie eine Menge Geld verlören, wenn sie sich freikauften. Den Leichnam liegen zu lassen, könnte jedoch dieselben Folgen haben.
Die Leiche steckte in einem abgetragenen Anzug. War da eventuell Geld in den Taschen? Bei diesem Gedanken verschwanden plötzlich alle Ängste, den Körper zu berühren, und die drei durchsuchten hektisch den Anzug, fanden aber nichts. Kein Geld. Es fiel ihnen auf, dass die Leiche seitlich auf einer Tasche lag und diese umklammerte. Sie musste etwas Wichtiges enthalten, wenn der Besitzer noch im Todeskampf so hartnäckig daran festhielt. Die drei sahen sich kurz an, lasen die Gedanken des jeweils anderen und wendeten den Leichnam kurzerhand, um die Tasche zu durchsuchen. Sie waren sich sicher, dass sie voller Geld war, wurden aber sehr wütend auf die Leiche, als sie feststellten, dass die Tasche nichts als Lumpen enthielt. Einer beschimpfte den leblosen Körper sogar, als wäre er lebendig. „Du elender Lügner. Ich bin sicher, dass diese Lumpen deine Kleidung sind und du den Anzug gestohlen hast. Schämst du dich nicht, anderen Leuten die Kleider zu stehlen? Und dann klaust du nicht einmal einen besseren Anzug. Den hätten wir wenigstens nehmen können.“
Als sie gerade gehen wollten, wurde ihnen plötzlich bewusst, dass sich überall auf der Leiche ihre Fingerabdrücke befanden. Sie konnten sie nicht dort liegen lassen und beschlossen, den Beweis ihrer Verstrickung zu vergraben. Tote reden nicht, schon gar nicht, wenn sie und ihre Taschen unter einem Müllhaufen begraben sind. Es starben so viele an Hunger oder Krankheiten, ganz zu schweigen von denen, die sich aus Verzweiflung das Leben nahmen. Für die Polizei gab es keinen Grund in dem ganzen Gestank nach einer weiteren Leiche zu suchen.
Vielleicht sollte ich sie meinen Körper ruhig begraben lassen, sagte er sich – oder vielmehr seinem Vogel-Ich: Wozu bin ich in Aburĩria schon nutze? Der Körper ist ein Gefängnis für die Seele. Warum sollte ich nicht die Ketten durchtrennen, die mich an ihn binden, und Körper und Seele voneinander Abschied nehmen lassen? Dann wäre meine Seele frei und könnte ungehindert Land und Himmel durchstreifen. Ja, sie könnte ziehen, wohin sie wollte, ohne diese endlosen, einschränkenden Bedürfnisse des Körpers: Ich habe Durst, ich möchte Wasser trinken; ich
Weitere Kostenlose Bücher