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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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sich nach allem, was wir über ihn wissen, in den Müllbergen verstecken und uns auslachen, während wir unter den Menschen, in den Gebäuden und Herrscherstandbildern nach ihm suchen? Nein, riefen sie trotzig, sein Gestank wird uns nicht von unserer Suche abbringen.
    Aber wie mutig sie sich auch fühlten, je mehr sie über Satans Ränke sprachen, desto klarer wurde, wie schwierig es war, jemanden zu bekämpfen, den sie nicht mit eigenen Augen sehen konnten. In ihrer Niedergeschlagenheit erinnerten sie sich daran, dass sie Soldaten Christi waren und, wie es in der Bibel geschrieben stand, den heiligen Kampf ausfechten mussten. Glücklich sind die, die um meinetwillen leiden. Von solchen Gedanken belebt, reckten sie mit neuem Mut die Kreuze in die Höhe und sangen, bis sie heiser waren:
    Dieser Ort erstaunt mich
    Am Kreuz
    Denn nach dem Kummer herrscht Freude
    Am Kreuz
    Eines Freitagnachmittags, als sie in den Außenbezirken von Santamaria unterwegs und guter Dinge waren, kamen drei Männer auf sie zugerannt. Die riefen voller Entsetzen: „Satan! Satan!“ und versteckten sich hinter dem Banner der Soldaten Christi. „Bitte helft uns … Satan ist hinter uns her …“
    Die Soldaten, die ihre Lieder gesungen und im Stillen gebetet hatten, waren von der Ironie der Situation überrascht. Als sie ausschließlich an Satan gedacht hatten, konnten sie ihn nicht finden. Aber jetzt, auf dem Höhepunkt ihrer Freude und unter dem Eindruck Seiner Unermesslichen Gnade, als sie einzig und allein an Jesus dachten, erreichte sie eine Nachricht über Satan.
    „Was erzählt ihr da?“, fragten sie im Chor.
    „Satan … er macht uns die Hölle heiß! Helft uns!“
    „Wo steckt er?“, fragten die Soldaten Christi aufgeregt, noch immer ein wenig verblüfft und bestürzt über die dramatische Wendung.
    Vielleicht war es ja weniger beängstigend, Satan im Geiste zu bekämpfen, als ihm leibhaftig gegenüberzustehen. Doch dies war ihre Stunde und nichts sollte sie davon abhalten, sich ihrer Aufgabe zu stellen.

14
    Er war müde, hatte Hunger und Durst und die Sonne quälte ihn. Er wollte ganz hinaufklettern, als ihm plötzlich die Knie weich wurden und er am Fuß des Müllberges zusammenbrach. Er konnte nicht sagen, ob er vorübergehend ohnmächtig war oder tief schlief, doch als jetzt eine sanfte Brise aufkam, hob sie ihn aus seinem Körper und trug ihn in den Himmel, wo er nun schwebte. Noch immer konnte er unten am Fuß des Müllbergs seinen Körper liegen sehen, wo sich Kinder und Hunde um winzige Fleischreste an weißen Knochen zankten. Dein Körper braucht Erholung von dir, und du brauchst Erholung von deinem Körper, hörte er sich sagen. Er beschloss, seinen Körper unten in der Sonne liegen zu lassen, und wanderte schwerelos durch Aburĩria. Warum sollte man die Erforschung und die Freude an unserem Land nur den Touristen überlassen?, kicherte er in sich hinein – und verglich die Zustände in den verschiedenen Städten und Regionen des Landes.
    Das ist wirklich lustig, sagte er zu sich, als er bemerkte, dass er wie ein Vogel aussah und auch wie ein Vogel durch die Luft schwebte. Das Brausen der kalten Luft an den Flügeln tat ihm gut. Ihm fiel ein christliches Lied ein, das er einmal gehört hatte:
    Ich werde fliegen und diese Welt verlassen
    Ich werde durch den Himmel schweben und Zeuge werden
    Von Wundern die ich niemals vorher sah
    Die unten mit der Erde geschehen.
    Er begann zu singen. Doch weil er den Schnabel nicht so weit aufbekam wie seinen Mund, glich das, was herauskam, eher dem Pfeifen der Vögel, deren Lied er frühmorgens in der Wildnis gehört hatte.
    Aus der luftigen Höhe seiner Vogelperspektive sah er die Regionen im Norden und in der Mitte Aburĩrias, im Süden, im Osten und im Westen. Die Landschaft unter ihm reichte von den Ebenen an der Küste bis zum Gebiet der Großen Seen und dem unfruchtbaren Busch im Osten, vom Hochland in der Mitte bis zu den Bergen im Norden. Die Menschen unterschieden sich ebenso in der Sprache wie in ihrer Kleidung und der Art, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienten. Einige waren Fischer, andere züchteten Rinder und Ziegen, und wieder andere bestellten die Äcker. Doch überall, besonders in den Städten, war das Leben kaum anders als in Eldares. Überall litten die Menschen Hunger, hatten Durst und liefen in Lumpen herum. In den meisten Städten hausten Familien mit ihren Kindern in Hütten aus Pappe, Schrottteilen, abgefahrenen Reifen und Plastik. Er fand es widersinnig,

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