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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Ordnung, die das Universum zusammenhielt. War ihr Leben durch das, was sie auf ihrer Wanderung erfahren hatten, nicht reicher geworden? Die ganze Nacht pflegte er frei und ungebunden das Universum zu durchstreifen, vom Sein der Dinge unendlich fasziniert, und wenn er morgens in seinen Körper zurückkehrte, fühlte er seinen Geist von neuer Energie belebt, bereit, einen weiteren Tag in den Straßen von Eldares herumzulaufen und an Türen zu klopfen, in der Hoffnung, dass etwas sein Leben verbesserte. Auf diese Weise blieb er zuversichtlich und freute sich über seine freien Flüge ins Universum, die die Wunden der fruchtlosen Suche linderten.
    Niemals jedoch hatte er an einem helllichten Tag erfahren, was er an diesem Tag zur Mittagszeit durchlebte, weder an einem Müllberg noch sonst irgendwo. Er verstand es als Warnung, sich künftig von Müllhalden fernzuhalten und andere Wege zu gehen. Der Große Allgegenwärtige, der für die fliegenden und kriechenden Lebewesen sorgt, konnte sich schließlich für diejenigen, die nach seinem Bilde geformt waren, nicht weniger verantwortlich fühlen.
    Er entdeckte ein Stück chapati , das der Wind durch die Luft trug, und folgte ihm mit seinem Blick. Gerade schwebte der Brotfetzen genau über seinem Kopf. Instinktiv griff er mit der letzten Energie, die ihm geblieben war, zu und steckte ihn in den Mund. Oh, nein – es war nur ein Stück Papier. Er fühlte sich elend. Hastig nahm er das Papier wieder aus dem Mund, doch anstatt es wegzuwerfen, betrachtete er es, als hätte er es ohnehin lesen wollen. Es war ein Stück Zeitungspapier.
    Auf der einen Seite befand sich ein Bild des Herrschers. Der Kopf fehlte und nur der Torso mit den Händen, die einen Stab und einen Fliegenwedel hielten, war übrig geblieben. Es sah ein wenig grotesk aus und ihm war nach Lachen zumute, doch das erforderte Kraft.
    Auf der anderen Seite war eine vierköpfige Delegation der Global Bank zu sehen, die nach Aburĩria gekommen war, um über das nationale Bauprojekt eines Palastes zu beraten, der bis zum Himmelstor reichen sollte. Außenminister Machokali werde einen Empfang und ein Abendessen geben, im …
    Ein Abendessen? Essen? Offensichtlich gab es auf dieser Welt Menschen, die noch etwas zu essen hatten. Wo sollte dieses Abendessen stattfinden? Wieder sah er sich den Papierfetzen an, aber diese Worte fehlten. Er warf das Papier weg, aber es fiel nicht auf den Boden; ein leichter Windstoß griff es auf und es taumelte wieder durch die Luft, höhnisch etwas zum Essen vorgaukelnd, das so greifbar nah und gleichzeitig so fern war, und machte aus ihm einen Tantalos in Eldares. Ihm wurde wieder schwindlig. Er lehnte sich beim nächsten Laden an eine Säule und blickte auf die Menschenmassen auf der Straße. Um den Gestank in der Luft nicht ertragen zu müssen, hielt er den Atem an.
    Kamĩtĩ hatte schon immer einen äußerst feinen Geruchssinn und konnte bereits als Kind Dinge aus großer Entfernung riechen. Sein Geruchssinn war, wie bei einem Tier, so stark ausgeprägt, dass er jemanden häufig schon wahrnahm, bevor dieser überhaupt auftauchte. Wenn er sich genügend konzentrierte, konnte er der Spur eines Menschen folgen. Auf die verschiedenen Gerüche in einer Menschenmenge reagierte er sehr empfindlich.
    Der Geruch aber, den er vor einiger Zeit entdeckt hatte, unterschied sich von allem, was ihm bislang in die Nase gestiegen war. Zunächst hatte es sich nur um einen Hauch unter vielen gehandelt, der dann aber so intensiv geworden war, dass er sich mittlerweile von allen Seiten von ihm angegriffen fühlte. Er konnte nicht sagen, ob dieser süßliche Duft von den nicht abgeholten Müllbergen ausging, von den Fabriken in den Industriegebieten oder einfach von menschlichem Schweiß. Er roch nicht ganz so wie modernde Blätter; er ähnelte mehr dem Gestank von faulendem Fleisch – allerdings nicht von totem Fleisch, sondern von einem menschlichen Körper, der lebte und gleichzeitig verfaulte und doch … nicht ganz; er war zugleich vertraut und auch wieder nicht. In manchen Menschen herrscht stärkere Fäulnis als in anderen. Als er diesen Geruch zum ersten Mal wahrnahm, fragte er sich, ob dieser aufgrund seines Hungers oder seiner Schwäche aus seinem eigenen Bauch aufstieg. Draußen jedoch in der freien Natur, tief in den Wäldern weit entfernt von Eldares, war der Geruch verschwunden, egal wie hungrig, durstig oder müde er war. Wenn er in kleineren oder großen Städten unter Menschen war, versuchte

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