Herr der Krähen
habe Hunger, ich möchte etwas essen; ich bin nackt, ich brauche Kleidung; ich stehe im Regen, ich brauche Obdach; ich bin krank, ich muss zum Arzt. Ich muss den Bus nehmen, habe aber kein Geld. Ich muss Schulgeld bezahlen, Steuern … Ist es nicht einfacher, das alles hinter sich zu lassen?
Als er aber sah, dass die Männer ihn – oder vielmehr seinen Körper – tatsächlich hochhoben und ihn zum Abfall auf die Ladefläche ihres Lastwagens warfen, der auf die Müllhalde zusteuerte, hörte er eine innere Stimme schreien, der Leib sei der Tempel Gottes und die Seele habe kein Recht, ihre Verbindung zu dieser Welt zu trennen, bevor sie nicht ihren Aufenthalt auf Erden beendet habe. Ich bin ein Mensch, ein menschliches Wesen, eine Seele und kein Stück Abfall, egal wie arm und zerlumpt ich aussehe, und ich verdiene Achtung, hörte er sich sagen, während er zu seinem Körper hinabglitt und ihn wieder in Besitz nahm.
Der Gestank, der ihm in die Nase stach, war so kräftig, dass er niesen musste, als er versuchte sich aufzusetzen. Er wischte sich die Müllreste aus dem Gesicht. Die beiden Männer, die gerade auf der Beifahrerseite des Lastwagens einsteigen wollten, hörten sein Niesen. Wie angewurzelt blieben sie stehen. Auch der Fahrer erstarrte, die Hände an der Tür, ein Bein auf dem Trittbrett, das andere noch auf dem Boden. „Was war das?,“ fragte er. Doch die zwei antworteten nicht. Nachdem sie nach hinten gegangen waren, um einen Blick auf den Körper zu werfen, der von den Toten auferstanden war, rannten sie davon. Auch der Fahrer floh, lief seinen Freunden hinterher und flehte sie inständig an, ihn nicht der Willkür des Teufels auszuliefern. Das Wort „Teufel“ ließ sie noch schneller laufen, alle drei schrien jetzt „Satan!“, so laut sie konnten. Erst als sie eine Gruppe junger Männer und Frauen mit Kreuzen und einem Spruchband sahen, auf dem SOLDATEN CHRISTI geschrieben stand, blieben sie stehen, fassten sich etwas und baten um Hilfe.
15
Die drei Müllmänner zitterten, als sie ihre Geschichte erzählten. Wie sie einen Leichnam gefunden hatten, der gerade, als sie ihn auf der Deponie vergraben wollten, wieder zum Leben erwachte oder vielmehr von den Toten auferstand und anfing, sie um den Müllwagen herumzujagen. Wie er versuchte, sie zu fangen und ihnen drohte, sie in die riesige Tasche zu stecken, die er bei sich trug, um sie nach Hause zu den Engeln des Bösen ins Land des Teufels zu entführen. Das war doch der Ort des ewigen Feuers, sagten die Müllmänner, und die Soldaten Christi antworteten mit Ja. Die Müllmänner konnten nicht genau sagen, wie sie den Klauen des Teufels entkommen waren, doch hatten sie die Gelegenheit genutzt, die sich ihnen bot, und waren geflohen.
Es war eine traurige Geschichte, eine Geschichte des Schreckens und der Rettung – was für ein knappes Entkommen! Noch bevor sie mit ihrer Erzählung fertig waren, sagte einer von ihnen, dass er nie wieder Müll fahren wolle; und alle drei schworen, nie mehr einen Leichnam anzufassen, wie tot er auch sein mochte. Wahrhaftig, die Toten waren tödlich.
„Macht euch keine Sorgen“, antworteten die Soldaten Christi daraufhin und nickten verständnisvoll, um zu zeigen, dass sie die Schliche Satans sehr genau kannten. „Es war Jesus, der euch befahl, vom Kehrbesen zu lassen und fortan die Herzen der Menschen zu reinigen“, versicherten sie ihnen und stimmten eine Hymne an.
Der Herr befahl den Fischern, ihm zu folgen
Und von ihren Netzen zu lassen
Und er sagte ihnen, er führe sie in den Himmel …
Die Hymne und der Gesang bewirkten, dass auch den Soldaten Christi neuer Mut durch die Adern strömte. Einige begannen sogar vor Begeisterung zu weinen, begierig darauf, unverzüglich in den Krieg zu ziehen.
Die Müllmänner bedankten sich und glaubten sich in der Gesellschaft der Gläubigen sicher; als sie aber gebeten wurden, den Soldaten Christi den Ort des schrecklichen Geschehens und der knappen Flucht zu zeigen, weigerten sie sich und willigten erst ein, als ihnen versicherte wurde, hinter dem Banner Zuflucht nehmen zu können. Die Soldaten würden sie mit ihren Kreuzen auf allen Seiten schützen. Der Teufel fürchtet das Kreuz, versicherten sie. Hatte er nicht von ihnen abgelassen, sobald er sah, dass sie auf das Kreuz zuliefen? Und sie sangen: „Am Kreuz, am Kreuz, da fand ich den Herrn …“
Und so konnten die drei Männer, aus der Geborgenheit hinter dem Banner und den Kreuzen, auf eine einsame Gestalt
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