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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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„in welcher Sprache haben Sie denn Ihre Heilpflanzenstudien betrieben? In Hindi?“
    „Nein, nein“, antwortete Kamĩtĩ schnell. „Um ehrlich zu sein, ich wollte Hindi lernen, wirklich – es ist schließlich die am weitesten verbreitete Sprache im Land – aber ich habe nicht sehr viel mitbekommen, weil unsere Lehrveranstaltungen in Englisch abliefen. Ein Ergebnis der britischen Herrschaft, genau wie hier. In Indien gibt es außer Hindi noch viele andere Sprachen: Gujarati, Bengali, Telugu, Urdu, Malayalam und zahllose weitere. In Madras, wo ich aufs College gegangen bin, spricht man Tamil. Ein paar Brocken Tamil kriege ich zusammen, zum Beispiel ‚Zeigen Sie mir bitte den Weg nach …‘ oder ‚Geben Sie mir bitte einen Schluck Wasser …‘“
    „Um Wasser betteln! Jetzt haben Sie zum ersten Mal eine Wahrheit ausgesprochen, die sich nicht leugnen lässt. Ich weiß, dass die Straßen in Indien voller Bettler sind, manche haben sogar einen Doktorhut in der Kunst des Bettelns. Es ist klar, dass Sie da Sätze aufschnappen, die mit dem Betteln zu tun haben.“
    „Ach … na ja … Bettler … gibt es … in Aburĩria … auch“, stotterte Kamĩtĩ ein wenig verwirrt.
    „Es gibt Bettler in unseren Straßen, das stimmt, aber so viele wie in Indien sind es bei weitem nicht“, sagte Tajirika in einem Ton, der deutlich machte, dass sich die Unterhaltung ihrem Ende näherte. „Also, junger Mann. Wie war noch Ihr Name? Mir kommt es vor, als wüssten Sie über Geschichte besser Bescheid als über Holz. Was ich auch frage, immer antworten Sie mir mit einem Geschichtsvortrag.“
    Kamĩtĩ wusste nicht recht, ob das als Kompliment oder höhnisch gemeint war.
    „Man kann sich nur Mühe geben“, antwortete er unbestimmt.
    „Gut“, sagte Tajirika, während er aufstand. „Sie haben in diesem Vorstellungsgespräch Ihr Bestes gegeben. Das gefällt mir. Ich wollte mich vergewissern, dass Sie in der englischen Sprache bewandert sind, bevor wir zum eigentlichen Test kommen. Folgen Sie mir. Ich werde den Test selber durchführen, um sicherzugehen, dass Sie auch alles verstanden haben.“
    Kamĩtĩ freute sich. Ihm war klar, dass dieser Mann nicht so viele Fragen stellen würde, wenn er ihm nicht eine Chance geben wollte. Und das war es ja, worum es ihm eigentlich ging: eine Chance, um zu zeigen, wozu er mit seinen Händen und seinem Verstand in der Lage war. Er packte seine Tasche jetzt noch fester. Das war heute wirklich sein Tag. In all den Jahren, in denen er einer Arbeit nachgejagt war, hatte kein Vorstellungsgespräch länger als ein paar Minuten gedauert. Wie anders war dieser Chef im Vergleich zu all den anderen, die ihm nicht erlaubt hatten, seine Bedürfnisse zu äußern! Er hatte seine Zeit geopfert, um sorgfältig Kamĩtĩs Bildungshintergrund auszuloten. Das hier sollte sein erstes echtes Vorstellungsgespräch werden, und er war entschlossen, alles richtig zu machen und alle Fragen eindeutig, bestimmt und vollständig zu beantworten. Und auch wenn ein Sprichwort sagt, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, konnte Kamĩtĩ nicht anders, als sich die Zukunft vorzustellen. Wenn ich diese Stelle kriege, dann … wenn ich meine neue Arbeit anfange, dann … Doch plötzlich hörte er auf, vor sich hin zu träumen. Denn statt ihn in sein Büro zu führen, ging Tajirika durch die Eingangstür nach draußen.
    Sogar die Sekretärin war verblüfft: Wohin ging Tajirika mit dem jungen Mann? Da sie noch neu war, fragte sie sich, ob er ihn in ein anderes Büro brachte, von dem sie nichts wusste. Kamĩtĩ dachte Ähnliches und versuchte seine Hoffnung aufrechtzuerhalten: Vielleicht hatte Tajirika ihn bereits eingestellt und brachte ihn jetzt an seinen Arbeitsplatz, damit er sofort anfing. Kamĩtĩ klopfte sich auf die Schulter. Es war richtig, ihm all die Einzelheiten über die Ausbildung erzählt zu haben. Es war richtig, ruhig geblieben zu sein und ausführlich geantwortet zu haben. Es stimmte, dass Geduld nicht nur das Tor zum Wissen war, sondern auch zu Reichtum führte oder zumindest zu einer Arbeitstelle.
    Die Sekretärin stellte sich an die Tür, um zu sehen, was als Nächstes folgte. Ihr Herz stockte, als sie die beiden beim Schild an der Straße stehen bleiben sah. Leider konnte sie von ihrem Standort aus nicht hören, worüber sie sprachen, und konzentrierte sich deshalb auf ihre Gesten.
    „Sie sagten, dass Sie Englisch lesen und schreiben können?“, fragte Tajirika Kamĩtĩ.
    „Yes. Yes! One of my best

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