Herr der Krähen
Leistungen anerkannt wurden.
„Sie müssen das Kamasutra von vorn bis hinten gelesen haben?“
„Was ist das?“, fragte Kamĩtĩ ehrlich verwundert, weil er das alte Handbuch der körperlichen Liebe nicht kannte.
„Und Sie haben keine Gelegenheit ausgelassen, es in der Praxis auszuprobieren?“, fuhr Tajirika fort und hob den Blick von den Unterlagen.
Er schaute zu seiner Sekretärin, als wäre ihm gerade bewusst geworden, in ihrer Gegenwart etwas Unschickliches gesagt zu haben. Doch der Versuch einer Entschuldigung geriet wenig überzeugend und schien eher auszudrücken, wie gern er noch mehr gefragt hätte, wäre sie nicht zugegen gewesen.
Tajirika warf noch einen Blick zu seiner Sekretärin und lachte unsicher. Er konnte sie noch nicht richtig einschätzen und spürte ihr Urteil, obwohl sie schwieg. Er ließ das Thema Kamasutra fallen und widmete sich wieder den Zertifikaten.
„Indien? Madras?“, fuhr Tajirika fort, als wäre er tatsächlich an den Studienleistungen seines Gegenübers interessiert. „Tamil Nadu? Was ist das, etwa noch ein indisches Curry?“
„Nein“, antwortete Kamĩtĩ, der nicht wusste, ob er lachen sollte oder nicht, und begann geduldig zu erklären. „Indien ist in zahlreiche Regionen unterteilt. Genau wie Aburĩria mit seinen verschiedenen Provinzen. Tamil Nadu ist der Name eines Staates in Südostindien. Kerala ist auch ein Staat im Süden, liegt aber weiter westlich. Beide haben eine gemeinsame Grenze. Tamil Nadu grenzt im Norden an zwei weitere Staaten: Karnataka und Andhra Pradesh. ,Pradesh‘ bedeutet ,Provinz‘. Aber in Wahrheit sind die indischen Provinzen groß wie Länder. Madras – ich glaube aber, dass sie es mittlerweile anders nennen – Chennai, ja, oder so ähnlich – Madras war …“
„Ich hatte Sie gebeten, mir über ihre Qualifikationen zu berichten, junger Mann, und Sie halten mir stattdessen einen Vortrag über die Geographie Indiens?“
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Kamĩtĩ. „Geographie und Geschichte Indiens sind sehr reichhaltig.“
„Wie das Schwarze Loch von Kalkutta?“, warf Tajirika mit selbstzufriedenem Grinsen ein. „Das ist das Einzige, was ich von der Geschichte Indiens weiß. Ehrlich gesagt, mehr will ich auch nicht wissen. Und wenn man mich fragen würde, was man mit den Indern in Aburĩria machen soll, würde ich empfehlen, sie allesamt in ein modernes Schwarzes Loch von Kalkutta zu werfen. Immer wenn ein Schwarzer in Aburĩria versucht, etwas aus seinem Leben zu machen, steht ihm ein Inder im Weg. Und wenn der sich mit einem Schwarzen abgibt, hagelt es nur Beleidigungen. Sie hegen keinerlei Achtung für die Leute, auf deren Boden sie zu Wohlstand gelangt sind. Und was machen sie mit ihrem Geld? Schaffen es nach Indien und Pakistan und neuerdings auch noch nach Bangladesh. Keine Spur von Loyalität Aburĩria gegenüber. Einige haben sich sogar geweigert, unsere Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie ziehen es vor, Briten zu bleiben, Engländer, um genau zu sein. Auch die anderen mit ihrer doppelten Staatsbürgerschaft sind immer auf dem Sprung nach draußen, sollte in Aburĩria einmal etwas schieflaufen. Die Inder sollten dankbar sein für das, was sie haben, und dafür, einen Herrscher zu haben wie den unseren.“
„Aber schaffen nicht auch einige schwarze Aburĩrier ihr Geld auf Schweizer Konten?“, meinte Kamĩtĩ. „Wo ist der Unterschied?“
„Warum verteidigen Sie die Inder?“
„Ich sage nur, dass es offensichtlich in Indien genauso wie in Aburĩria und in ganz Afrika habgierige Menschen gibt. Und gleichzeitig gibt es solche, die sich sorgen und gegen alles kämpfen, was den Menschen Leid zufügt. Ich bin der Meinung, dass es eine Menge Dinge gibt, die wir von Indien und anderen asiatischen Ländern lernen können, genauso wie sie von uns lernen können. Wir in Aburĩria sollten mehr als andere unsere Beziehungen zu Indien verstärken, weil viele unserer Bürger indischer Abstammung sind …“
„Sie wagen es, die Inder hier Bürger zu nennen? Aburĩrische Staatsbürger?“
„Warum nicht?“ Kamĩtĩ glaubte, sein zukünftiger Chef würde prüfen, ob er sich gegenüber Kunden behaupten könne, und fügte, an dessen pan-afrikanistische Gefühle appellierend, hinzu, als würde er ihm ein Geheimnis verraten: „Wissen Sie, manche glauben, dass einige Inder in Wahrheit afrikanischer Abstammung sind – beispielsweise die Siddis. Die Dravider, die Telugu sprechen, sehen aus, als kämen sie aus Äthiopien oder
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