Herr der Krähen
das Gefühl, seine Eltern furchtbar enttäuscht zu haben. Sie waren Bauern, zumindest seine Mutter. Sie hatten ihr Stück Land verkauft, um ihm Schule und College zu ermöglichen. Doch seit er sein Heimatdorf Kĩambugi verlassen hatte, um nach Eldares zu ziehen, war er nicht mehr dorthin zurückgekehrt, kein einziges Mal, und hatte seinen Eltern auch nicht mehr geschrieben. Ihnen schreiben, um zu berichten, wie oft er wie ein streunender Hund aus Büros gejagt worden war? Ihnen mitteilen, dass die Abschlüsse, für die sie mit jahrelanger Plackerei und Verzicht bezahlt hatten, ihm nicht einmal das Fahrgeld für den Bus eintrugen? Warum nur hatte er den Müllmännern nicht erlaubt, seinen Körper zu vergraben? Wenn er aus der Welt schied, würden ihn seine Eltern kaum vermissen, denn für sie war er inzwischen so gut wie tot.
Auf einmal bot sich ihm eine Lösung, einfach und verlockend. Doch in dem Augenblick, als er sie in die Tat umsetzen wollte, umgab ihn der Duft von Blumen. Er hob den Kopf. Es war die Sekretärin. Wollte sie den Beleidigungen ihres Chefs noch die eigenen hinzufügen?
Kamĩtĩ wollte sie weder ansehen noch mit ihr reden; er wollte nicht, dass sie das Ziel seiner Rachegedanken wurde. Deshalb wandte er den Kopf ab und schaute auf den Boden. Die Frau ignorierte das und versuchte, eine Unterhaltung zu beginnen.
„Darf ich mich setzen?“, fragte sie.
Kamĩtĩ antwortete nicht. Aber die Frau setzte sich neben ihn, und einen Augenblick lang herrschte tiefes Schweigen zwischen ihnen. Dann hörte Kamĩtĩ die Frau schluchzen. Ein Wimmern. Nein, er wollte nicht auch noch die Last eines anderen Menschen aufgeladen bekommen – er hatte schließlich selbst genug Kummer –, doch war er Leiden gegenüber empfänglich.
„Was ist?“, fragte Kamĩtĩ.
„Warum hat er Ihnen nicht einfach gesagt, dass es keine freien Stellen gibt und es dabei belassen? Warum diese gezielte Erniedrigung?“, sagte sie.
„Ist schon in Ordnung“, meinte Kamĩtĩ, verblüfft, wie genau ihre Worte ein Echo seiner Gedanken waren.
„Das sind die wahren Ungeheuer, von denen es heißt, sie haben zwei Mäuler, eins vorn und eins hinten.“
„In den Geschichten?“, erwiderte Kamĩtĩ in einem erschöpften, fast gleichgültigen Ton. Er war es nicht gewöhnt, seinen eigenen Kummer mit dem der Gesellschaft in Verbindung zu bringen.
„Ja“, antwortete die Frau. „Aber die in den Geschichten sind vergleichsweise menschlich.“
„Wie das?“, fragte er immer noch trübsinnig.
„Weil die in den Geschichten manchmal des Menschenfleisches überdrüssig werden und sich zur Abwechslung mit gebratenen Fliegen zufrieden geben. Diese modernen Ungeheuer aber nähren sich ausschließlich von Menschen und hören niemals damit auf.“
„Ist schon in Ordnung“, wiederholte Kamĩtĩ.
„Was meinen Sie mit ‚Ist schon in Ordnung‘?“
„So ist die Welt nun mal“, sagte Kamĩtĩ im selben Ton wie vorher. Er wünschte sich, das Gespräch wäre zu Ende und sie ginge.
„Das verstehe ich nicht.“
„Die Welt hat keine Seele.“
„Dann muss man die Welt ändern. Und ihr eine Seele geben.“
Er schwieg eine Zeit lang. Ist das etwa eine von denen, die von Revolution reden? Kamĩtĩ war überzeugt, dass verletzte Seelen falsche Theorien hervorbrachten, nicht umgekehrt. Es gibt Menschen, deren Herz krank ist. Heile sie von dieser Krankheit, und das Gute wird sich zeigen. Seiner Ansicht nach wohnten gleichermaßen Gutes und Schlechtes in der Seele eines Menschen, und daran konnte niemand etwas ändern. Dennoch war klar, dass er über die Meinung, die er gerade vertrat, noch nicht besonders viel nachgedacht hatte; er sprach sie einfach aus.
„Hören Sie: Die Welt wird so bleiben, wie sie immer gewesen ist. Das Glück herrscht über unser Leben.“
„So wie das Glück zuletzt mein Leben beherrscht hat?“, fragte sie und lachte plötzlich. Er hob den Kopf und sah sie an. Es war kein aufgesetztes Lachen, es schien direkt aus ihrem Innern zu kommen. Das Lachen eines zufriedenen Menschen, dachte Kamĩtĩ. Wer würde nicht lachen, wenn er wüsste, dass er eine sichere Arbeit hat!
„Warum lachen Sie?“
„Beachten Sie es einfach nicht. Ich lache ziemlich oft. In all den Tagen und Monaten auf der Straße bei der Arbeitssuche habe ich im Lachen Trost gefunden. Manchmal habe ich sogar gelacht, wenn ich dieses ,Wir bedauern es sehr, aber im Moment haben wir keine freie Stelle‘ zu hören bekam. Lachen ist meine Geheimwaffe gegen Not.
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