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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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wandelte sich täglich; immer häufiger begegnete er Menschen, die von der Stimme des Volkes sangen und sich auf Eldares zubewegten. Trotzdem suchte er weiter, ging an ihnen entlang, musste aber wie die Motorradfahrer feststellen, dass sie weder Anfang noch Ende hatten.
    Der Gedanke kam wie aus dem Nichts: Was, wenn Nyawĩra ihn verlassen und sich mit einem anderen, möglicherweise einem ihrer jüngeren Kameraden, eingelassen hatte? Er dachte daran, wie Margaret Wariara, die später dem tödlichen Virus zum Opfer fiel, ihn verlassen hatte. Gab es etwas an ihm, das die Menschen, die er am meisten liebte, von ihm wegtrieb? Doch auch wenn er es versuchte, er konnte sich nicht vorstellen, dass Nyawĩra ging, ohne sich von ihm zu verabschieden. Aber hatte er sich je vorstellen können, dass Wariara, eine häusliche Frau, sich für die Touristen in den großen Hotels prostituieren würde?
    Der Gedanke an Wariara trieb ihn dazu, in den Bars, die überall im Land wie Pilze aus dem Boden schossen, nach Nyawĩra zu suchen. Dort wurden alle erdenklichen Sorten Bier und Schnaps verkauft und es kam oft zu Schlägereien, weil die Trinker sich gegenseitig die bessere Qualität ihrer Sorten vorhielten. Er fühlte sich unbehaglich, einfach nur herumzustehen oder ohne Drink, gerade mal mit einem Soda, in einer Ecke zu sitzen.
    Ab und zu genehmigte er sich ein Bier, um sich der trinkenden Gemeinschaft anzupassen. Anfangs beschränkte er sich auf ein Glas am Tag. Doch mit jedem vorübergehenden Tag wuchs die Menge, die er trank. Das Bier war nun sein Retter. Wenn er aus trunkener Benommenheit erwachte und die Wirklichkeit ihn zu verschlingen drohte, eilte er zurück zum Tempel und suchte Erlösung. Der Alkohol enttäuschte ihn nie, hielt seine Sorgen immer auf Distanz.
    Seine Mittel waren erschöpft, und so verbrachte er seine Tage damit, statt nach Nyawĩra nach billigerem und wirksamerem Gebräu zu suchen. Nyawĩra und der Herr der Krähen verblassten zu Gestalten aus einem Traum, vor langer Zeit in einem fernen Land. Jetzt hatte er neue Freunde, Säufer wie er selbst, und wenn er kein Geld hatte, bettelte er sie um ein oder zwei Schnäpse an.
    Unter den Zechkumpanen wurden viele Geschichten und derbe Witze erzählt. Eines Tages entdeckte er in einer überfüllten Bar einen Mann, der der Menge aus einem Buch mit dem Titel „Der gekreuzigte Teufel“ vorlas. Immer wenn er sein Glas geleert hatte, machte er eine Pause und verkündete, dass er seinen Schnabel befeuchten müsse. Und erst wenn ihm die Umstehenden das Glas wieder gefüllt hatten, las er weiter. Der Erfolg des Mannes, sich kostenlose Getränke zu ergattern, inspirierte Kamĩtĩ, selbst Geschichten zum Besten zu geben. Er erzählte, wie er einst am Fuße eines Müllbergs aus seinem Körper gefahren und als Vogel hoch durch die Lüfte geflogen war, bevor er eben noch rechtzeitig in seinen Körper zurückkehrte, weil Müllmänner sich daran machten, ihn zu begraben. Die Menge interessierte sich nicht für Kamĩtĩs Märchen, nur ein Betrunkener, der immer allein in einer Ecke saß, als wollte er sich verstecken, horchte auf. Er, der sonst kaum etwas sagte, hob plötzlich die Stimme: „Was hast du gesagt?“
    Die anderen Trinker waren überrascht, die Stimme des Mannes zu hören, und fragten sich: Hat Bileams Esel endlich eine Stimme bekommen? Kamĩtĩ, der glaubte, schließlich doch ein interessiertes Publikum gefunden zu haben, wiederholte die Geschichte. Der Betrunkene, bekannt als Mr. Gehstock – er hatte stets seinen Stock mit kreuzförmigem Griff bei sich –, kam herüber und starrte ihm entsetzt in die Augen, schüttelte den Kopf und ging murmelnd zu seinem Platz zurück: „Nein, das ist unmöglich, er hat keine Tasche auf dem Rücken wie der andere. Und er hat keine Hörner.“ Dennoch wechselte der Betrunkene, der in dieser Bar schon zum Inventar gehört hatte, das Lokal und zog von da an von Bar zu Bar, und wenn eine neugierige Zunge wissen wollte, warum, sagte er: „Wenn man zu lange auf demselben Stuhl sitzt, schlafen die Arschbacken ein.“
    Bei anderer Gelegenheit erzählte Kamĩtĩ in der gleichen Trinkerrunde, wie er sich in einen Vogel verwandelt und ganz Afrika und die Karibik besucht hatte, aber das ging seinen Zuhörern zu weit, und sie meinten, er solle seine blanken Lügen irgendwelchen leichtgläubigen Dummköpfen anderswo erzählen. Irgendwie fehlte seinen Geschichten oder der Art, wie er sie erzählte, die Kraft, die die Zuhörer in Welten mitnahm,

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