Herr der Krähen
gehört.
„Warum hast du mich nach diesem Haus gefragt?“, wollte der Alte wissen.
„Ich wollte nur erfahren, was passiert ist“, antwortete Kamĩtĩ.
„Was soll das? Siehst du nicht, dass es abgebrannt ist?“
„Wer war das?“
„Glaubst du an Gott?“, fragte der Alte.
Kamĩtĩ wollte schon eine unhöfliche Antwort geben, beherrschte sich aber.
„Ja.“
„Und du glaubst, dass er der Herr ist, der Herrscher über Himmel und Erde?“
„Ich hab’s nicht so mit der Religion, aber das stimmt.“
„Lobet den Herrn“, sagte der alte Mann und hob die Stimme, als sollten ihn die Vorübergehenden hören.
„War es ein Unfall oder Brandstiftung?“, fragte Kamĩtĩ gereizt.
„Ein Unfall? Lobet den Herrn“, wiederholte der Alte.
„Gab es irgendwelche Opfer?“, fragte Kamĩtĩ, der glaubte, der Mann sei verrückt.
Statt zu antworten, beugte sich der Alte etwas vor, sah Kamĩtĩ in die Augen und flüsterte:
„Hast du nicht gerade gesagt, dass du an Gott glaubst, den Herrn im Himmel?“
„Warum? Wie viele Götter gibt es denn?“, fragte Kamĩtĩ ziemlich ungeduldig.
„Genau das ist die Frage. Es gibt nur einen Gott. Aber es gibt viele Herren. Hast du darüber mal nachgedacht?“
„Sprich nicht in Rätseln. Sag einfach, was du mir sagen willst.“
„Ich wollte dir nur versichern, dass der Herr im Himmel weise und gerecht ist.“
„Und?“
„Er wirkt auf unergründliche Weise.“
„Also?“, fragte Kamĩtĩ verzweifelt.
„Lobet den Herrn und danket dem Allmächtigen, der hoch über uns wohnt“, murmelte er und wandte sich zum Gehen. „Lobet den Herrn!“ Bald darauf war er nicht mehr zu sehen.
4
Was hatte der Mann ihm sagen wollen? Der Herr konnte überirdisch oder irdisch sein. Diejenigen, die den Schrein niedergebrannt hatten, standen in irgendeiner Beziehung zum Herrscher. Lobet den Herrn. Es hatte keine Opfer gegeben, deshalb: Lobet den Herrn. Diese Erklärung erleichterte ihn. Nyawĩra lebte. Aber wo war sie? War sie verletzt? War sie im Krankenhaus oder hatte man sie gefasst? Wie sollte er das herausfinden? Wo sollte er sie suchen? Andererseits: Wenn man Nyawĩra gefasst hatte, hätte das in allen Zeitungen gestanden. Er suchte in den Archiven der Eldares Times, jedoch vergeblich. In letzter Zeit war nichts über Nyawĩra, die Bewegung für die Stimme des Volkes oder Brandstiftung erschienen. Er ging ins Polizeihauptquartier und gab sich als Reporter der Eldares Times aus, der herausfinden wollte, ob es in den verschiedenen Landesteilen unlängst Verhaftungen oder Unfälle gegeben hatte. Aber auch dort musste er mit leeren Händen abziehen. Er klapperte die Krankenhäuser ab, ebenfalls umsonst.
Während der Tage und Wochen seiner Suche magerte er ab und bald sah er dem, der aus Amerika zurückgekehrt war, kaum noch ähnlich. Weil seine Suche keine beunruhigenden Neuigkeiten zu Tage förderte, war er sich beinahe sicher, dass Nyawĩra lebte und frei war. Doch manchmal fragte er sich, ob sie sich vielleicht im Gewahrsam der von Sikiokuu kontrollierten Geheimpolizei befand. Als er für Sikiokuu geweissagt hatte, hatte er immer wieder gesehen, wie Nyawĩra in einer Menge verschwand, und deshalb begann er sie überall dort zu suchen, wo sich Menschen versammelten, um Gutes zu tun.
Er ging in die katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen; in die Moscheen und die Tempel der Hindus, Sikhs, Jaina und Juden im ganzen Land; aber es gab an diesen Orten der Verehrung keinerlei Spur von Nyawĩra.
Dabei kam er auch an einigen Menschenschlangen vorbei, langsamen, unaufhaltsamen Prozessionen, und war nicht sicher, ob diese neu oder Fortsetzungen der alten waren. Aber ob es nun alte oder neue waren, spielte keine Rolle für ihn. Er sah in ihnen nur Menschenansammlungen, in denen der Geist Nyawĩras leben könnte, und deshalb begann er dort nach ihr zu suchen. Er stellte sich jedoch nicht an, sondern ging alle Warteschlange ab, das Gesicht nach links oder rechts gewandt, je nachdem, auf welcher Seite der Reihe er sich befand. Weil sich die Schlangen täglich und überall vervielfachten, bekam er bald einen steifen Hals.
Eines Tages stieß er auf eine Prozession, die besser organisiert zu sein schien als die anderen, an denen er bislang vorbeigekommen war, und ihr Anliegen in einem Lied zum Ausdruck brachte:
Das Volk hat gesprochen
Das Volk hat gesprochen
Gebt mir meine Stimme wieder
Das Volk hat gesprochen
Gebt mir die Stimme wieder, die ihr mir genommen
Die Szenerie
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