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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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die sie noch nie besucht hatten, die ihnen Wunder zeigte, die sie noch niemals gesehen hatten, die sie das vertraute Milieu ewigen Elends zumindest vorübergehend vergessen ließ, und deshalb wurde sein Glas nur selten gefüllt. Enttäuscht gab er das Geschichtenerzählen auf. Da nicht viel in sein Glas floss, verließ er die Bar manchmal schon früh und machte sich auf den Weg nach dem, was ihm Zuhause geworden war, seinen dem Erdboden gleichgemachten Schrein, in dem er morgens neben einer Katze erwachte, die sich an ihn schmiegte. Es war dieselbe Katze, die er gesehen hatte, als er zum ersten Mal vor den verkohlten Ruinen stand. Wie an jenem Tag maunzte die Katze einmal auf und ging davon, und er blieb verwundert mit der Frage zurück, ob er ihr folgen sollte, konnte sich aber nicht dazu entschließen.
    Als er eines Nachts seine Stammkneipe verließ, entdeckte er an der Wand ein Plakat, und irgendetwas daran ließ ihn stehen bleiben. Das Bild darauf hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit ihm – zumindest mit seinem Äußeren, bevor der Alkohol die Herrschaft über Körper und Geist erlangt hatte. Nein, es war nicht sein Gesicht, weder jetzt noch damals, denn er hatte nie lange Haare getragen, und der Bart ließ ihn wie eine Art schwarzer Jesus aussehen. Als er näher heranging und das Plakat berührte, schien das dargestellte Gesicht ein wenig an Sikiokuu zu erinnern. Darunter stand geschrieben: AN DEN HERRN DER KRÄHEN! MELDEN GEGEN BELOHNUNG . Er rieb sich die Augen und schaute noch einmal hin. Da stand eine Telefonnummer. Warum eine Belohnung? Wofür? War die Belohnung für ihn oder für denjenigen, der ihn auslieferte? Er war vollkommen ratlos, was er damit anfangen sollte, zumal er in den nachfolgenden Tagen noch weitere Plakate entdeckte, die zu dem ersten im Widerspruch standen.
    Eines Nachmittags ging er in seine Stammkneipe, die Sell-Me-Death-Bar, und hoffte, obwohl er schon völlig betrunken war, auf ein weiteres Glas. Vor der Wand, an der eines der Plakate mit dem Jesus-Bart auf Sikiokuus Gesicht hing, stand ein herrenloses rotes Motorrad, aber das interessierte ihn nicht; und auch der Plakatkrieg beschäftigte ihn nicht weiter.
    Was jedoch selbst im trunkenen Zustand seinen Neid weckte, war die große Menschenmenge, die sich um einen Erzähler scharte, dessen Geschichten und die Art, in der er sie vortrug, die Phantasie der Zuhörer so beflügelte, dass einige sogar vergaßen, warum sie hierhergekommen waren. Der Höhepunkt kam, als der Geschichtenerzähler die Stimme senkte und Andeutungen machte, etwas über die Schwangerschaft eines Präsidenten zu wissen. Die Leute stießen einen Pfiff aus. Dann folgte Stille. Sie warteten ab. Ein schwangerer Präsident?
    „Ehrlich! Haki ya Mungu !“, sagte der Geschichtenerzähler mit lauter Stimme.

5
    Kamĩtĩ konnte das Gesicht des Geschichtenerzählers nicht genau erkennen. Aber die Wendung „Ehrlich! Haki ya Mungu !“ riss ihn aus seiner dumpfen Gleichgültigkeit. Wann und wo hatte er diese Wendung zuletzt gehört?
    „Sogar die weißen Ärzte waren von dem seltsamen Ereignis verblüfft“, fuhr der Geschichtenerzähler fort. „Und der Herr der Krähen? Oh, nein, der nicht. Ich war im Flugzeug dabei, als der Brief verlesen wurde, und habe alles gehört. Mr. Präsident, stand in dem Brief, Sie sind schwanger, und keiner weiß, was Sie zur Welt bringen werden.“
    Wer ist dieser Mann, der meine Worte benutzt?, fragte sich Kamĩtĩ. Warum verdreht er sie und macht Lügen daraus? Ihm war, als könnte er diesem Geschichtenverdreher nicht gestatten, weiter den Sinn seiner Worte zu verfälschen. Er fühlte sich wie ein Autor, dessen Werk von einem anderen abgekupfert wurde, nur um es in Form und Inhalt zu verdrehen. Und obwohl er betrunken war, spürte er das Bewdürfnis, seine schriftstellerische Integrität zu verteidigen.
    „ Hapana ! Nein, so war es nicht!“, hörte er sich zur Verblüffung des Publikums sagen.
    Alle drehten sich zu Kamĩtĩ um. Diejenigen, die ihn aus dieser oder einer anderen Bar kannten, taten ihn kurzerhand als den Trinker ab, der jedes Mal versuchte, eine gute Geschichte zu verderben. Der Geschichtenerzähler war von seiner Einmischung verblüfft und belustigt. Wer war das, der seine Geschichte auf eine Weise in Frage stellte, wie das noch kein anderer Zuhörer gemacht hatte, an keinem einzigen Ort, an dem er seine Geschichte erzählt hatte? „ Hapana ! So war es gar nicht. Machokali ist mein Zeuge. Ich hinterließ ihm eine Nachricht

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