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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Regierung verteilte die Broschüren kostenlos in Kirchen, Moscheen, Tempeln und Schulen. Fernsehen und Radio sollten täglich einen Auszug senden als Gedanken zum Tag. Die Lehrer wurden streng angehalten, den Schulkindern die Werte der Vergangenheit zu lehren, der widerspruchslosen Folgsamkeit. Anstatt das Wort „Vergangenheit“ zu verwenden, sollten sie über afrikanische Modernität im Wandel der Zeiten sprechen, und die führenden Gestalten bei Afrikas Marsch zurück zu den Wurzeln einer authentischen, unwandelbaren Vergangenheit sollten als die großen Weisen der afrikanischen Moderne betrachtet werden.
    Am Erscheinungstag des „Magnus Africanus“ verfügte der Herrscher in einem gesonderten Dekret, dass traditionelle afrikanische Heiler nicht mehr als Hexer, Wahrsager oder Zauberheiler bezeichnet werden durften. Ab sofort sollten sie Spezialisten für afrikanische Psychiatrie, kurz Afrochiater, genannt werden und hatten die Erlaubnis, den Doktortitel zu führen. Der Herrscher plante zudem die Gründung der Ruler’s Academy of Authentic Afrochiatrists (RAAA) .
    Die dramatischste Verlautbarung in einer Woche dramatischer Verlautbarungen sollte bald folgen und diese wurde in jedem Haus, in jedem Dorf, in jedem Winkel des Landes sofort zum Gegenstand von Klatsch, Gerüchten und Spekulationen. Der Herrscher verkündete, dass sich alle, die Gründungsdoktoren der neuen Akademie werden wollten, im State House zu einem landesweiten Test einfinden sollten. Aus den besten Gründungsdoktoren der Akademie würde der Herrscher einen Beraterstab bilden, der den Herrscher dabei unterstützen sollte, die Köpfe des Volkes klar auszurichten – den Gedanken des Herrschers entsprechend. Der Test sollte nach der Regel erfolgen: Wer zuerst kommt, wird zuerst getestet.

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    So etwas hatte man in Aburĩria niemals zuvor gesehen oder gehört: Experten der Zauberei und Hexerei, die sich mit ihren Utensilien den Weg zum State House bahnten, um am historisch ersten nationalen Leistungstest in ihrem Fach teilzunehmen. Ihre Zahl war überwältigend. Einige gehörten zu den regelmäßigsten Besuchern von Kirchen und Moscheen; niemand hätte gedacht, dass solche Glaubenseiferer nebenbei der Hexerei und Zauberei nachgingen. Es gab auch einige, die von Zauberei und Hexerei keine Ahnung hatten und trotzdem vorsprachen, weil sie hofften, die Prüfung zu bestehen und, als Grundlage für ihr persönliches Weiterkommen, einen Platz im Beraterstab des Herrschers zu ergattern. Manche waren die ganze Nacht unterwegs gewesen, und in den frühen Morgenstunden des Prüfungstages hatte sich vor den Toren des State House eine Schlange gebildet, die schon aus großer Entfernung sichtbar war.
    Die Soldaten Christi, stets wachsam und auf der Suche nach einer Gelegenheit, Satan zu ergreifen, beobachteten das Ganze und waren von diesem gewaltigen Aufmarsch verblüfft. Damit waren sie nicht allein, denn es gab lediglich zwei Menschen, den Herrscher und Tajirika, die den Zweck dieses nationalen Leistungstests in Zauberei und Hexerei kannten.

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    Ein Mitarbeiter der Protokollabteilung nahm den jeweiligen Hexenmeister oder Zauberheiler an der Spitze der Schlange in Empfang und führte ihn in ein Wartezimmer, wo Njoya, Kahiga und A.G. , wer immer gerade an der Tür Wache stand, ihn übernahm und zum Test eskortierte.
    Die Aufgabe selbst war einfach. Jeder Bewerber sollte versuchen, einen Mann zu heilen, der an einer Sprachhemmung litt, verursacht durch Worte, die ihm im Hals stecken blieben. Niemand erfuhr den Namen des Kranken oder andere Einzelheiten über diesen Mann; keiner wusste, dass der Patient der Herr der Krähen war.

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    Kamĩtĩ hatte gehört, wie Njoya und Kahiga sich flüsternd von der bevorstehenden Ankunft einer Delegation von Afrochiatern im State House erzählten. Er schlussfolgerte, dass es sich dabei um führende afrikanische Spezialisten für Geisteskrankheiten handelte. Doch war ihm nicht klar, dass sie seinetwegen kamen.
    Viele Hexenmeister trafen identische Vorbereitungen. Sie machten ein paar Verrenkungen, einige stießen sogar in Hörner oder bliesen in Trillerpfeifen, um die bösen Geister aufzuscheuchen, die vom Patienten Besitz ergriffen hatten, und stellten dann eine Frage, auf die Kamĩtĩ als Antwort immer das Wort „wenn“ ausspuckte. Geschlagen verließen sie das Zimmer und murmelten vor sich hin, sie hätten nie einen Fall erlebt, bei dem der Patient so vollständig von den bösen Geistern besessen gewesen sei. Einige

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