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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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fast einen Aufruhr auslöste, weil jeder fürchtete, seinen Platz in der Schlange zu verlieren. Aber nach einer kurzen verbalen Auseinandersetzung erklärten sich alle bereit zurückzugehen, wobei sie die hinter ihnen Stehenden wie Dominosteine vor sich her stießen.
    Nyawĩra hoffte wie sie, dass ihr Chef bald käme, weil er die dringend benötigten Aushilfen anstellen sollte. In der zweiten Reihe ließen sich mehr als genügend Bewerber finden, dachte sie und fragte sich gleichzeitig, wie und ob der Chef alle zum Vorstellungsgespräch bitten wollte.
    Nachdem sie ungefähr eine Stunde lang immer wieder dieselben Fragen beantwortet hatte, wurde Nyawĩra unruhig. Warum war er noch nicht da? Sie hatte ihn frühzeitig erwartet. Hatte er einen Unfall gehabt? War er auf dem Nachhauseweg ausgeraubt worden?
    Tajirikas Frau Vinjinia kam ins Büro und klärte alles auf. Aber sie hatte keine guten Nachrichten: Tajirika fühle sich nicht wohl und werde heute nicht in sein Büro kommen, sagte sie kurz, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Welche Krankheit konnte Tajirika davon abhalten, ins Büro zu kommen und Säcke voller Geld zu scheffeln? Als sie sich gestern Abend voneinander verabschiedet hatten, schien er bei ausgezeichneter Gesundheit. Aber darüber zerbrach sich Nyawĩra jetzt nicht den Kopf, weil sie mehr beschäftigte, was sie mit den beiden Warteschlangen machen sollte.
    „Keine Nachricht für mich?“, fragte sie Vinjinia, die nur den Kopf schüttelte.
    „Sieht es hier immer so aus?“, fragte Vinjinia. Es schien zwar, als wollte sie von ihrem Mann ablenken und lieber über die beiden Schlangen reden, aber sie war tatsächlich neugierig.
    Vinjinia war ein häuslicher Mensch. Genau genommen war sie Tajirikas Haushälterin. Sie hatten zwei Töchter und drei Söhne. Der älteste Sohn war Maschinenbauingenieur und arbeitete für ein deutsches Unternehmen, das Traktoren und landwirtschaftliche Geräte verkaufte. Er war verheiratet und lebte an der Küste. Der zweitälteste Sohn und das ältere Mädchen studierten an der Eldares University, das Mädchen Pädagogik und der Junge Business Administration. Die Jüngsten, Gacirũ und Gacĩgua, ein Mädchen und ein Junge, gingen in die Ganztagesgrundschule und wohnten bei ihren Eltern. Tajirika hatte sie eigentlich in ein Internat schicken wollen, aber Vinjinia hatte das abgelehnt – sie wollte noch etwas länger für die beiden da sein. Sich um die Kinder und die Felder zu kümmern, beschäftigte Vinjinia voll und ganz und hielt sie zu Hause in Golden Heights fest, sodass sie ihren Mann nur selten im Büro aufsuchte. Das Geschäft und die politischen Intrigenspiele interessierten sie wenig und sie hatte nicht einmal an der berühmten Geburtstagsfeier teilgenommen, bei der der Herrscher ihrem Mann die Hand geschüttelt hatte. Sie erfuhr erst davon, als Tajirika wieder nach Hause kam, eine Hand mit einem Taschentuch umwickelt, und sie sich fragte, ob ihm etwas Schlimmes zugestoßen war. Er hatte ihre Sorge gespürt und gelacht, das Geheimnis gelüftet und versprochen, sich einen Handschuh zu kaufen, um die Erinnerung an den Händedruck des Herrschers zu bewahren. Sie begriff kein Wort, vertraute ihrem Mann aber in weltlichen Dingen bedingungslos. Sie war für den Haushalt zuständig.
    Lediglich der Gottesdienst am Sonntag konnte sie aus dem Haus nach Santalucia und Santamaria locken. Sie gehörte zur Gemeinde der All Saints Cathedral und mischte sich sonntags unter die anderen Gemeindemitglieder – nicht, um die neuesten Nachrichten aus der Geschäftswelt und Politik zu hören, sondern um den aktuellen Seelenzustand ihrer Glaubensgenossen in Erfahrung zu bringen. Auch sie wollte keine Episode des heldenhaften Kampfes von Maritha und Mariko gegen Satan verpassen.
    „So etwas habe ich noch nie erlebt“, antwortete Nyawĩra mit Blick auf die beiden endlosen Schlangen.
    „Was sollen wir jetzt machen?“, fragten sich beide.
    „Warum sagen wir ihnen nicht die Wahrheit?“, meinten sie und schauten aus dem Fenster. Die Schlangen waren mittlerweile mächtig angewachsen und ihre Enden nicht mehr zu sehen.
    Die zwei Frauen brachten vor den Spitzen der beiden Menschenschlangen Zettel an: TAJIRIKA IST HEUTE NICHT DA. KOMMEN SIE MORGEN WIEDER. Dann gingen sie wieder hinein und warteten ab, was sich tat.
    Jetzt bot sich ihnen ein noch unglaublicherer Anblick. Als die am Beginn der Schlange Stehenden die Nachricht lasen und an die dahinter Wartenden weitergaben, trauten diese ihnen

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