Herr der Krähen
dem Vinjinia und Nyawĩra das Gefühl hatten, das Büro sei ihr Gefängnis. Die Sonne hatte ihr Tagwerk bereits beendet, die Schlangesteher hingegen nicht. Und die Frauen zögerten, ob sie nun ohne eine Nachricht des vermissten Polizisten nach Hause gehen sollten oder nicht.
Ab und zu rief Vinjinia zu Hause an und wollte wissen, ob es ihrem Mann besser ging, aber auch die Nachrichten von daheim waren alles andere als tröstlich, wodurch Vinjinia immer niedergeschlagener wurde, was die Atmosphäre im Raum nicht gerade erträglicher machte.
Die beiden Frauen waren den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Nyawĩra zog sich jetzt einen Stuhl heran und fragte sich, während sie weiter aus dem Fenster schaute, was ihren Chef so quälte, dass es ihn zwang, sich von dem leicht verdienten Geld fernzuhalten, es aber gleichzeitig nicht ernst genug war, um zum Arzt zu gehen. Vielleicht eine schwere Grippe. Doch warum schwieg Vinjinia darüber? Und wenn es Tajirika nicht bald wieder besser ginge, wie sollte sie mit der Schlange fertig werden? Als könnte sie Nyawĩras Gedanken lesen, nahm sich auch Vinjinia einen Stuhl und setzte sich neben Nyawĩra. Als sie sprach, klang ihre Stimme verzweifelt.
„Ich weiß, was Sie sich fragen“, begann sie. „Glauben Sie mir, ich tappe genauso im Dunkeln wie Sie. Wo soll ich anfangen? Gestern Abend kam er mit drei Säcken voll Burĩ-Scheinen nach Hause. Den ganzen Abend murmelte er irgendetwas vor sich hin, berechnete ich weiß nicht was. Sogar als er schließlich meinem Drängen nachgab und ins Bett kam, konnte er nicht einschlafen, sondern wälzte irgendwelche Gedanken. Aus den wenigen Worten, die ich aufschnappen konnte, folgerte ich, dass er den Einfluss berechnete, den Marching to Heaven auf unser Leben haben würde. Als ich einschlief, war er noch immer hellwach.
Die Krankheit brach heute früh aus. Es fing an, als er ins Bad ging. Auf einmal stand er wie angewurzelt vor dem Spiegel. Und jedes Mal, wenn er in den Spiegel schaute, konnte er nur sagen: ‚Wenn! Wenn ich bloß.‘ Er stand da und starrte in den Spiegel, als wollte er mit seinem Schatten reden. Jetzt sagen Sie mir, wie soll ich diese Symptome in einem Krankenhaus oder einem Arzt beschreiben? Was könnte ich sagen, ohne mich lächerlich zu machen? Dass mein Mann, der Vorsitzende von Marching to Heaven …? Was aber, wenn es ihm heute Abend nicht besser geht, was sollen wir morgen mit der Schlange tun?“ Vinjinia sprach aus, was auch Nyawĩra gerade durch den Kopf ging.
Nyawĩra dachte daran, wie Tajirika am Ende des gestrigen Bürotages aus Angst, sie könnte eine Diebin sein, eine Pistole auf sie gerichtet hatte. Vielleicht fürchtete er, ausgeraubt zu werden?
„Es ist völlig ungewöhnlich, dass jemand so viel Geld im Haus hat“, sagte Nyawĩra. „Vielleicht hat ihn der Gedanke an Räuber gelähmt. Irgendwie muss er so etwas gedacht haben: Wenn sie das Geld bei mir finden, werden sie mich umbringen. Wenn! Wenn ich bloß das Geld im Büro gelassen oder zur Bank gebracht hätte!“
Das plötzliche Eintreten eines der drei Polizisten, die das Gelände bewachten, unterbrach ihr Gespräch. Er wollte weitere Anweisungen erhalten. Es wurde allmählich dunkel, die Schlange wartete geduldig, und der Motorradpolizist war immer noch nicht zurück.
Vinjinia bezahlte ihn und seine Begleiter, damit sie das Anwesen auch in der Nacht schützten und auf den fehlenden Motorradfahrer warteten. Dann schlossen die Frauen das Büro ab und gingen durch die Hintertür hinaus. Die Schlange mit den Arbeitssuchenden war immer noch da. Vielleicht würde die Dunkelheit sie vertreiben. Und morgen war ein neuer Tag. Vinjinia fuhr in ihrem schwarzen Mercedes davon, ohne Nyawĩra anzubieten, sie mitzunehmen. „Bis morgen“, verabschiedete sie sich.
Was für ein Tag!, dachte Nyawĩra, als sie die Straße zur Bushaltestelle hinabging. Sie vermutete, dass an der Krankheit ihres Chefs mehr dran war, als Vinjinia zugegeben hatte. Wenn der Polizist ihr Zwiegespräch nicht gestört hätte, vielleicht …
Sie hatte gerade die Straße überquert, als sich ihr eine Hand auf die rechte Schulter legte. Sie drehte sich ruckartig um und hielt ihre Handtasche fest. Es gab so viele Geschichten über Raubüberfälle am helllichten Tag, dass jede Frau schon bei der leisesten Berührung durch einen anderen Menschen instinktiv die Handtasche festhielt.
Sollte sie nun vor Erleichterung auflachen oder vor Ärger losschreien? Sie wusste es nicht. Es war der
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