Herr der zwei Welten
Alarmbereitschaft. Doch seine Stimme klang nicht aufdringlich, deshalb schob sie das Misstrauen beiseite.
„Wir campen hier in der Nähe. Ich konnte nicht schlafen, da dachte ich mir, ich könnt ja mal sehen, ob oben am See noch was los ist.“
Er lachte erfreut auf.
„Ja, genau so ist es mir auch gegangen! Ich hatte allerdings den Weg nicht als so lang in Erinnerung.“ Er zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jeansjacke und bot Julie eine an. Julie zuckte die Schultern und griff zu.
„Hauptsache, wir stecken den Wald nicht in Brand. In letzter Zeit war es sehr trocken.“
Er nickte zustimmend. Gemeinsam liefen sie weiter. Der Mann schien, wie sie selbst, seinen eigenen Gedankengängen nachzuhängen, denn nun schwieg er den Rest des Weges. Kurze Zeit später waren sie am Ziel. Aber nur um festzustellen, dass sie beiden wohl die Einzigen waren, die nicht schlafen konnten. Der See lag ruhig und verlassen im Licht des vollen Mondes. Man konnte die gesamte Strecke gut überblicken.
Die kleinen Kringel, welche die Fische, bei ihrer nächtlichen Mückenjagd verursachten, waren die einzige Bewegung, die sich auf der spiegelglatten Wasseroberfläche zeigten. Julie zog die Luft tief ein. Es sah alles so friedlich aus. Einfach wunderschön! Julie liebte diesen Anblick; er sank tief in ihre wunde Seele. Es ging ihr einfach gut, hier oben! Es störte sie schon nicht mehr, dass hier niemand mehr war. Sie brauchte keine Unterhaltung, wenn sie nur die Ruhe des Sees genießen konnte. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ja gar nicht alleine war. Sie drehte sich um. Der Mann stand etwas abseits von ihr und blickte, genau wie sie zuvor, aufs Wasser raus. Sein Blick schien in weite Ferne zu schweifen. Ihm schien es wirklich genauso zu gehen, wie ihr. Auch er genoss augenscheinlich die Ruhe hier. Julie beobachtete ihn jetzt etwas intensiver. Er machte einen sympathischen Eindruck. Wahrscheinlich war er so um die fünfzig, schätzte sie, das Leben hatte jedenfalls bereits deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Aber gerade diese Spuren machten sein Gesicht einfach vertrauenserregend. Wieder wanderte Julies Blick auf das stille, dunkle Wasser. Was soll´s, dachte sie sich, warum sollte sie nicht bleiben? Es machte doch nichts, dass heute hier keine Party stattfand. Vielleicht würde sie ja auch mit diesem freundlichen Mann ins Gespräch kommen. Und falls nicht? Nun, sie hatte nichts dagegen, einfach ihre Umgebung und die Stille zu genießen. Sie kletterte auf den alten Baumstamm, der zur Hälfte im Wasser lag. Irgendwann, vor vielen Jahren, war er, entweder durch einen Sturm oder sonst was, umgekippt und zur Hälfte entwurzelt. Seit dieser Zeit befand sich seine halbe Krone unter Wasser, während die andere Hälfte noch immer grüne Triebe hervorbrachte. Der alte Baum war zum erklärten Lieblingsplatz aller Camper geworden. Wie oft hatte auch Julie schon auf seinem rissigen Stamm gesessen und ihre Beine ins Wasser baumeln lassen? Nicht lange und ihr fremder Begleiter setzte sich neben sie. Er hatte seine Schuhe am Strand zurückgelassen und war barfuß auf den Stamm geklettert. Nun ließ er, genau wie Julie, seine Füße ins Wasser baumeln und starrte lange Zeit vor sich hin. Julie war es recht, denn so konnte sie, ganz nach Belieben, ihre Traumwelt neu gestalten. Der Mann sagte nichts, störte sie nicht. Er schien ebenfalls in Gedanken versunken zu sein. Sie hatte schon beinahe vergessen, dass sie nicht alleine war. Doch plötzlich spürte sie, wie sich ein Arm um ihre Schultern legte. Sie sah ihren zufälligen Begleiter überrascht an. Was dachte er sich dabei? Sie wollte aufstehen, doch sein Griff wurde härter. Jetzt bekam Julie doch Angst. Doch es war zu spät! Was wollte er von ihr? Wieso nur war sie nicht gleich umgekehrt?
Seine Hände hielten sie fest, wie zwei eiserne Zangen.
„Hab dich nicht so!“ knurrte er. „Du bist schließlich nicht umsonst hier draußen. – Oder gefalle ich dir etwa nicht?!“
Sein Gesicht hatte alle Freundlichkeit verloren. Hatte Julie vor Kurzem noch gedacht, dass sein Gesicht vertrauenserweckend war? Dieser Scheißkerl! Sie wehrte sich, trat nach ihm, versuchte zu entkommen. Doch er war viel zu kräftig für sie. Hart zwang er sie an sich heran. Er zerrte an ihrem Arm, zog sie vom Baum und schubste sie brutal in den Sand.
Julie drehte und wand sich. Sie schluchzte.
„Lass mich in Frieden du Schwein!“ schrie sie ihn an. „Hilfe!“
Doch hier würde sie niemand hören.
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