Herr der zwei Welten
Haarsträhne aus der Stirn und streichelte ihre Wange. Aber dann stand sie auf, warf ihr noch einen besorgten Blick zu und ließ sie allein. Julie war ihrer Schwester dankbar. Sie brauchte jetzt die Zeit. Sie musste alleine mit sich sein, um dies alles in ihrem Kopf zu sortieren. Sie ließ sich nach hinten fallen, starrte zum Zeltdach, das der Wind leise bewegte, und versuchte über alles nachzudenken. Sie war froh, nicht mehr länger über das Geschehene reden zu müssen, aber sie wusste, dass auch Tina wach lag und über die Sache grübelte. Heute oder morgen würde sie das Thema sicher noch mal zur Sprache bringen. Julie wusste das. Aber sie hoffte, dass es ihr dann nicht mehr so sehr weh tun würde. Jetzt versuchte sie erst einmal, alles so sachlich wie möglich zu betrachten. Sie sog ihre Unterlippe ein und knabberte sacht daran. Ihre Gedanken drehten sich nicht um diesen Kerl, der seine Sexualität nicht unter Kontrolle hatte, sondern viel mehr, um den Umstand wie sie von ihm befreit worden war. Wer war dort gewesen? Wer hatte ihr geholfen? Und vor allem, wie hatte dieser Jemand es geschafft, den Kerl von ihr zu ziehen und ihn irgendwohin zu transportieren, wo sie ihn nicht einmal mehr sehen konnte? Und wieso hatte sie überhaupt niemanden gesehen? Es war wie ein gewaltiger Sturm, der Menschen durch die Luft segeln ließ, nur dass dieser Sturm ganz und gar an ihr vorbei gegangen sein musste. Sie war doch nicht wirklich verrückt, oder? Hatte sie sich das alles vielleicht wirklich nur eingebildet? Julie tastete verunsichert an ihrem Körper hinunter. Nein, die Schrammen auf ihrer Haut, der rote Striemen um ihre Taille, der entstanden war, als der Kerl ihre Jeans so brutal runter gerissen hatte, und auch der zerrissene Slip – das alles war da. War Wirklichkeit! Aber dann war es auch real, dass eine unsichtbare, starke Macht das Schlimmste verhindert hatte. Diese Macht hatte den Fremden von ihr geschleudert, als wäre er eine Feder. Diese Macht hatte den Kerl weggerissen, sie hatte den Luftzug gespürt, und zwar viel weiter, als dass sie hätte blicken können. Wie sollte so etwas funktionieren? So etwas gab es nicht!
Julie kam ein beängstigender Gedanke: Vielleicht hatte sie sich den letzten Teil der Geschichte wirklich nur eingebildet. Vielleicht war der Kerl ja doch zum Ziel gekommen, und vielleicht war diese Tatsache dann zu schlimm, als dass sie sich das eingestehen konnte?
Krampfhaft versuchte sie, sich nun die ganze Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Lieber Gott, mach, dass ich die Wahrheit finde, betete sie. Aber da war nichts anderes, als das, was sie bisher gedacht hatte. Es durfte doch nicht sein, dass die Sache mit ihrer mysteriösen Rettung nur in ihrem Kopf stattgefunden hatte! Denn das hieße zwangsläufig, dass sie vergewaltigt worden war. Nein! Bitte nicht! Auch wenn Julie sich vorgenommen hatte, das Thema nicht mehr zur Sprache zu bringen, auch wenn sie wollte, dass diese ganze Geschichte aus ihren Gedanken gestrichen werden könnte, wusste sie doch, dass sie zum Arzt gehen müsste, wenn sie Gewissheit haben wollte. Julie schluchzte trocken, aber was anderes blieb ihr nicht übrig. Es wunderte sie selber, aber sie wurde tatsächlich müde und schlief ein. Traumlos … Gott sei Dank!
*
Als Julie erwachte, war der Frühstückstisch schon gedeckt. Der Kaffee duftete verführerisch. Tina und Detlef saßen am Tisch, jeder einen Teller mit frischem Toast vor sich. Beinahe konnte man denken, heute Nacht sei nichts geschehen. Einen Moment zögerte Julie, dann setzte sie ein Lächeln auf, das ihr nicht leicht fiel und setzte sich zu den Beiden. Zumindest konnte Julie jetzt sicher sein, dass Tina wirklich nichts gesagt hatte. Die Normalität tat Julie gut und der Kaffee tat sein Übriges dazu. Nur Tinas Augen verrieten, dass Julie nicht nur geträumt hatte. Tinas Augen und die Tatsache, dass ihr alles wehtat. Doch das wollte sie vergessen.
„Toast?“ fragte Detlef und reichte ihr den Brotkorb. Julie schüttelte den Kopf.
„Nein, danke, ich warte lieber noch ein wenig mit dem Essen. War gestern ein bisschen zu viel.“
Nancy spielte bereits mit ihren mitgebrachten Puppen vor dem Zelteingang. Jetzt kam sie zu Julie und streckte ihr auffordernd eine davon entgegen.
„Nein, Nancy, lass mal Tante Julie in Ruhe ihren Kaffee trinken.“ sagte Tina gleich.
Schmollend zog sich das Kind zurück. Julie sah der Kleinen bedauernd hinterher, dabei streifte ihr Blick Detlef.
„Was
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