Herr der zwei Welten

sich die Tränen aus den Augen und beobachtete die Reaktion seiner Gegenüber. Plötzlich trat auch in seine Augen Erstaunen.
    „Ihr habt wirklich keine Ahnung? In eurem Land ist das wirklich anders? Kann ich gar nicht glauben! – Natürlich bin ich kleiner als ihr! Oder meint ihr vielleicht, ich wollte so riesig sein? – Aber warum seid ihr denn so erstaunt?“
    Dervit räusperte sich und blickte kurz zu seinen Füßen, die unter seinem Hintern rausguckten. Dann entschuldigte er sich, wegen seinem Ausspruch, der sich auf ihre Größe bezogen hatte. Es war ihm unangenehm, die Fremden auf ihre Größe angesprochen zu haben. Er meinte wohl, sie würden sich dadurch beleidigt fühlen. Lächerlich! Offensichtlich glaubte er, die Größe der Menschen wäre etwas Krankhaftes, über das zu lästern, ihm nicht zustünde. Jetzt war Julie erst recht irritiert. Selbst Kai schien plötzlich sprachlos zu sein. Es war das erste Mal, seit sie in dieser Welt waren, dass er nichts mehr zu sagen wusste. Stattdessen antwortete Pieter:
    „Na ja, mein Sohn meint nur, dass du kleiner bist, wenn wir stehen, aber dass das nicht mehr zutrifft, wenn wir alle sitzen. – Wir würden nur gerne wissen, weshalb das dann anders ist.“
    Julie hatte die ganze Zeit über die Szenerie beobachtet, als ob das Ganze sie gar nichts anginge. Genauso fühlte sie sich jedenfalls. Es war reiner Instinkt, dass sie begonnen hatte, die Geschehnisse wie in einem Kino zu betrachten. Sie durfte sich gar nicht damit beschäftigen, dass sie eigentlich mitten drin steckte. Sie schaute deshalb auch nur Bernhard kurz richtig an. Er, so dachte sie jedenfalls, sah die Sache mittlerweile genau wie sie. Jedenfalls war er der Einzige, dessen Gesicht nicht diese hochgradige Nervosität zeigte.
    Jetzt erwiderte Dervit:
    „Aber das ist doch immer so! Völlig normal! – Jeder sollte dem anderen doch in die Augen blicken können. Wie wäre das denn möglich, wenn der eine immer um so vieles kleiner sein würde, als der andere?- Schließlich ist das doch auch ganz wichtig für die Liebe! Wie sollte man denn Liebe machen können, wenn man den anderen dabei nicht mal ansehen könnte?“
    Dervits Gesicht spiegelte das blanke Erstaunen über die Unwissenheit seiner Gäste. Für ihn mussten die Fragen klingen, als hätten Kleinkinder sie gestellt. Doch ihnen erging es ja wirklich nicht anders und so wussten sie auch nichts zu erwidern. Pieter fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Liz Mary blickte geniert zu Boden. Es schien ihr peinlich zu sein, wenn auch nur das Wort Liebe fiel. Julie hätte sie gar nicht so eingeschätzt. In ihrem eigenen Kopf klang das Wort immer und immer wieder, ohne das sie dessen Bedeutung hätte einfangen können. Kai lachte leise vor sich hin. Nur Bernhard blieb unbeteiligt. Oder war da etwas wie Neugierde in seinem Blick?
    Aber nun fuhr Dervit fort:
    „Aber wie seid ihr denn nun hier hergekommen? Aus eurem Deuslan?“
    Diese Frage war wie ein Eimer voll eiskaltem Wasser. Es war, als ob sie erst jetzt wieder so richtig begriffen, wo sie eigentlich waren. Doch Julie schöpfte plötzlich Hoffnung.
    „Wenn wir das nur selber wüssten!“ Ihre Augen klebten förmlich an Dervits Mund.
    „Vielleicht kannst du uns ja helfen! Wir waren ganz plötzlich hier. Niemand von uns weiß, wieso oder wie wir hier hergekommen sind. Verstehst du? – Wir … wir kommen nicht aus einem anderen Land. Wir kommen von einer ganz anderen Welt! Bei uns sind zum Beispiel alle so groß wie wir. Und sie sehen auch alle so aus wie wir. Niemand ist bei uns so blau wie Du. Bitte, sieh uns doch an! Sehen wir denn so aus, wie Leute, die du kennst?“
    Julie fühlte, wie die Tränen in ihre Augen stiegen. Aber sie musste sich zusammennehmen. Auf keinen Fall wollte sie den Zwerg noch mehr irritieren.
    Aber Dervit schien da anderer Auffassung zu sein. Er musterte jeden Einzelnen ausgiebig. Er schien einfach nur sprachlos zu sein, über so viel Neues, das ihm die Fremden erzählten. Dann nickte er, wobei ihm sein weizenblondes Haar von einer Seite des Gesichtes auf die andere schlug.
    „Ja, das hört sich allerdings glaubhaft an. – Alle so groß wie ihr? Schrecklich! Und niemand hat eine so schöne blaue Haut?- Entschuldigt bitte, ich wollte euch nicht beleidigen. – Für euch seht ihr dann sicher ganz normal aus. Wahrscheinlich findet ihr mich dann seltsam.“
    Er kicherte entzückt. Hatte er doch jetzt eine ganz andere Möglichkeit entdeckt, die Dinge zu sehen. Nach einer Weile