Herr der zwei Welten
anderen. Offensichtlich glaubte er, sie würden ihn belügen, denn sein Gesichtsausdruck zeigte Ärger und Misstrauen. Hatten sie also bereits den ersten Fehler gemacht? Hier, wo es sicherlich darauf ankam, so wenig wie möglich Fehler zu begehen, da gerade das ihr Überleben sichern konnte! Da sie ja hier die Fremden waren, wäre es unklug die Einheimischen zu verärgern. Selbst dann, wenn diese Einheimischen so klein waren, wie dieser hier! Julie sah Kai an, der ja der Situation hier am wenigsten ängstlich gegenüberstand. Aber der schien ihre Gedanken zu teilen. Julie erinnerte sich an ein Märchen, das ihre Mutter ihr öfters vorgelesen hatte. In Gullivers Reisen waren es auch nur Winzlinge gewesen, viel kleiner sogar als dieser hier. Und doch, hatten sie nicht den großen Gulliver zu Fall gebracht?
Niemand schien sich jetzt zu trauen, noch etwas zu sagen. Es war, als hätte jeder Angst, den zweiten Fehler zu machen. Julie sah, wie Pieter kräftig Luft holte und dann etwas, in der Größe eines Taubeneis, hinunterschluckte. Doch dann machte er sich zum Sprecher von allen. Schweigen wäre wohl auch nicht das Klügste!
„Entschuldige bitte unsere Manieren.“ begann er freundlich. „Wir sind hier fremd, und wenn wir uns nicht so benehmen, wie es für Dich üblich ist, dann liegt das sicher nur daran. Wir wollen Dich auf keinen Fall beleidigen! – Ich bin Pieter. Das dort ist meine Frau. Ihr Name ist Liz Mary. Die beiden dort sind meine Kinder, Kai und Steff“ stellte er seine Familie vor. Steff hatte ein bezauberndes Lächeln im Gesicht. Sie wirkte jetzt wie eine kleine Prinzessin in einem Märchen der Gebrüder Grimm. Julie staunte, wie leicht Kinder doch mit solch einer Situation fertig werden konnten. Der Zwerg blickte sie jetzt an, und auf seinem Gesicht stellte sich ebenfalls ein freundliches Lächeln ein. Das machte es Julie leichter, den Kloß, der die ganze Zeit in ihrem Hals festsaß hinunterzuschlucken und sich ebenfalls vorzustellen.
„Ich bin Julie und der Mann dort heißt Bernhard.“ beeilte sie sich schnell zu sagen.
„Gut, gut!“ Der Zwerg nickte gewichtig. „Dann will ich euch jetzt auch bereitwillig meinen Namen sagen. – Auch wenn ihr so seltsam ausseht, wie ihr das macht.- Aber daran soll es schließlich nicht liegen. –Ich bin also Dervit.“
Dabei machte er eine Verbeugung, dass er beinahe seine Knie berührte.
„Also ihr sagt, ihr kommt aus- Deuslan?“ fragte er schließlich und setzte sich hin. Jetzt, wo er saß, war er noch kleiner; wenn er schon gesessen hätte, ehe sie ihn gesehen hatten, hätten sie ihn einfach übersehen. Keine Chance, so einen kleinen Kerl in dem hohen blauen Gras zu finden. Die riesigen blauen Halme schienen ihn zu verschlucken. Aber das schien seinem Selbstbewusstsein keinen Abbruch zu machen. Er nickte ihnen gewichtig zu, forderte sie auf, es ihm gleich zu tun. Julie und die anderen sahen sich kurz an, dann setzten sie sich zu dem Zwerg auf den Boden. Plötzlich konnten sie ihm gerade in die Augen blicken. Erschrocken sprangen alle, bis auf Kai, wieder auf. Allerdings sah Kai plötzlich komisch aus, so mit dem offen stehenden Mund, den er nun hatte. Sie trauten ihren Augen nicht! Es hatte, binnen Sekunden, eine Größenverschiebung stattgefunden, die entweder sie selbst auf die Größe des Zwerges reduziert oder aber Dervit auf die Größe der Menschen katapultiert hatte. Doch nun, als sie alle wieder standen, war Dervit wieder fast verschwunden. Im Gegensatz zu ihm wirkte Kai, der noch immer das Gesicht eines Ochsen machte, wie ein Riese.
„Wie ist das möglich?“ stotterte Pieter verdutzt.
„Was meinst Du? Ist etwas geschehen?“ erkundigte der Zwerg sich besorgt.
Immer noch völlig durcheinander setzten sie sich wieder. Pieter zuerst. Und wieder geschah das Gleiche. Wieder gab es keinen Größenunterschied zwischen ihnen und dem Zwerg mehr. Kai schien sich wieder gefangen zu haben.
„Ich verstehe das nicht! Du bist doch eigentlich um so vieles kleiner als wir. Weshalb ist das jetzt anders? Warum bist du plötzlich genauso groß wie wir?“
Der Zwerg sah Kai ruhig an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.
„Aber das ist doch völlig normal!“ rief er und schlug sich lachend auf die Beine. „Ihr habt mir vielleicht einen Schreck eingejagt! Springt einfach auf, als wäre der Teufel aus der Küche gekommen. Oh, ist das gut!“
Doch dann schien er selbst mitzubekommen, dass er der Einzige war, der das lustig fand. Er wischte
Weitere Kostenlose Bücher