Herr des Chaos
Stadtbewohner liefen auseinander. Keiner widmete dem Jungen besondere Aufmerksamkeit; schließlich hatten sie für die eigenen Kinder zu sorgen, und das fiel ihnen schon schwer genug. Mat atmete schwer durch. »Ist dir denn nicht klar, daß man dir etwas tun könnte, wenn du dich so einfach auf ein fremdes Pferd setzt, Junge? Außerdem reitet ein Mann wie der möglicherweise einen Hengst, der einen kleinen Jungen glatt in den Boden seiner Box stampfen könnte, so daß niemand überhaupt wüßte, daß du dagewesen bist.«
»Ein Wallach.« Der Junge versuchte wieder, sich mit einem Ruck aus Edorions Griff zu befreien, und als er merkte, daß dieser sich kein bißchen gelockert hatte, machte er eine mürrische Miene. »Es war ein Wallach, und lammfromm; er hätte mir nichts getan. Pferde mögen mich. Ich bin auch kein kleiner Junge; ich bin neun. Und ich heiße Olver - nicht Junge.«
»Olver, ja?« Neun? Nun gut, vielleicht. Mat konnte so etwas schwer einschätzen, und besonders bei den Kindern aus Cairhien. »Also, Olver, wo sind deine Mutter und dein Vater?« Er sah sich um, aber die Flüchtlinge, die vorbeikamen, schritten genauso schnell weiter wie die Stadtbewohner. »Wo sind sie, Olver? Ich muß dich doch zu ihnen zurückbringen.«
Statt zu antworten, biß sich Olver auf die Lippe. Eine Träne rann ihm aus einem Auge und er rieb sie zornig weg. »Die Aiel haben meinen Papa getötet. Einer von diesen ... Schado. Mama hat gesagt, daß wir nach Andor gehen. Sie sagte, wir würden auf einem Bauernhof wohnen. Mit Pferden.«
»Und wo ist sie jetzt?« fragte Mat leise.
»Sie ist krank geworden. Ich - ich habe sie begraben, wo ein paar Blumen wuchsen.« Plötzlich trat Olver nach Edorion und begann, sich in seinem Griff zu winden. Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Laßt mich gehen! Ich kann auf mich selbst aufpassen. Laßt mich gehen!«
»Paßt auf ihn auf, bis wir jemanden für ihn finden«, sagte Mat zu Edorion, der ihn mit offenem Mund ansah, während er gleichzeitig den Jungen abwehrte und ihn dabei festzuhalten versuchte.
»Ich? Was soll ich denn mit diesem Leoparden von einer Teppichmaus anfangen?«
»Besorgt ihm beispielsweise eine Mahlzeit.« Mat rümpfte die Nase. Dem Gestank nach hatte Olver zumindest einige Zeit auf dem Stallboden zugebracht, wo der Wallach stand. »Und ein Bad. Er stinkt.«
»Sprecht gefälligst mit mir selbst!« rief Olver und rieb sich über das Gesicht. Die Tränen halfen ihm dabei, den Dreck kräftig zu verschmieren. »Sprecht mit mir und nicht über meinen Kopf hinweg!«
Mat riß die Augen auf und dann bückte er sich zu dem Jungen herunter. »Tut mir leid, Olver. Ich konnte es auch nie leiden, wenn die Leute das mit mir machten. Also, es ist so: Du riechst nicht gut, und deshalb wird dich Edorion hier zum ›Goldenen Hirsch‹ mitnehmen, und dort richtet Frau Daelvin dir ein Bad.« Olvers Miene wurde noch ein wenig mürrischer. »Sollte sie etwas dagegen haben, dann sagst du ihr, daß es in meinem Auftrag geschieht. Sie darf dich nicht davon abhalten.« Mat hielt sein Grinsen ob Olvers plötzlich stolzen Blickes zurück; das hätte alles verdorben. Vielleicht paßte dem Jungen der Gedanke an ein Bad nicht, aber wenn ihn jemand möglicherweise davon abhalten wollte... »Jetzt geh mit und tu, was Edorion dir sagt. Er ist ein wirklicher Lord aus Tear, und er wird dafür sorgen, daß du eine gute, warme Mahlzeit bekommst und ein paar Kleidungsstücke, die noch nicht durchlöchert sind. Und außerdem Schuhe,« Am besten fügte er nicht hinzu: »Jemanden, der auf dich achtgibt.« Frau Daelvin würde sich seiner schon annehmen. Ein wenig Gold dürfte ihren Widerstand wohl brechen.
»Ich mag keine Tairener«, murmelte Olver, wobei er zuerst Edorion und dann Mat mit finsterer Miene musterte. Edorion hatte die Augen geschlossen und fluchte leise vor sich hin. »Ist er ein wirklicher Lord? Seid Ihr auch ein Lord?«
Bevor Mat etwas erwidern konnte, kam Estean durch die Menschenmenge gerannt. Sein dickes Gesicht war stark gerötet und schweißüberströmt. Sein verbeulter Harnisch ließ die frühere vergoldete Pracht nur noch erahnen, und die roten Satinstreifen an seinen gelben Ärmeln waren ausgebleicht. Er wirkte absolut nicht wie der Sohn des reichsten Lords von Tear. Aber so hatte er schließlich noch nie gewirkt. »Mat«, schnaufte er und fuhr sich mit den Fingern durch das strähnige Haar, das ihm ständig über die Stirn hing. »Mat... Drunten am Fluß...«
»Was denn?«
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