Herr Merse bricht auf
wohl heute Ebbe oder Flut war? Er schien den Jungen neben sich mit seiner unterdrückten Aufregung anzustecken. Der Junge schaute auch zum Fenster hinaus. Dabei knabberte er verwinkelte Gänge in einen sehr grünen, harten Apfel. Alles gerät ihm zum Labyrinth, dachte Herr Merse.
Der Zug verließ schon die Marschwiesen, sie waren auf dem Damm. Es war Flut. Ein grau melierter Himmel lag wie ein Seidentuch über einer anthrazit gewellten, weiten Wasserfläche. Von der Insel aus leuchtete ihm das weiße Kliff von Braderup entgegen. Unwillkürlich hob er die Arme, um das Fenster aufzureißen, aber das ging nicht. Es fehlte ein Quergriff zum Herunterziehen des Fensters. Früher stand auf einem weißen schmalen Emailleschild in vier Sprachen die Aufforderung, sich nicht aus dem geöffneten Fenster zu lehnen. Er hatte sie als Kind auf der langen Fahrt wieder und wieder gelesen und vor sich hin gemurmelt wie eine Melodie. Am schönsten war das Italienische: E pericoloso sporgersi. Hier aber war kein Griff, kein Schild.
Der Junge guckte ihn erstaunt an, weil er die Bewegung wahrgenommen hatte, die ins Leere lief. » Schade, dass man es so nicht riechen kann«, sagte Herr Merse wie zur Erklärung.
» Riechen?«, fragte die Mutter der beiden und sah ihn direkt an mit leuchtenden, braunen, durch fein gezeichneten Mascarastift hervorgehobenen Augen.
» Das Glück«, sagte Herr Merse und merkte mit augenblicklicher Bestürzung, dass er sich in diese Augen hinein versprochen hatte. Er lief rot an. » Das Meer«, sagte er. » Das Meer. Früher gingen die Fenster auf. Dann konnte man Seeluft riechen und sich freuen.« »Ja, blöd, diese modernen Züge«, stimmte die Frau zu.
Herr Merse nickte erleichtert. Das Mädchen hatte nicht zugehört und wackelte mit dem Kopf im Takt ihrer Musik. Der Junge sah Herrn Merse wortlos an und schaute weg, als dieser ihn, um seine Verwirrung zu verbergen, aus Höflichkeit fragte, wo es denn hingehe. Schweigend schauten sie beide danach aus dem linken Fenster, wo sich als graue ferne Köttel die Halligen und als länglicher Bauklotz Amrum vor dem Horizont abzeichneten.
* * *
Am Bahnhof in Westerland driftete alles mit Sack und Pack auseinander. Herr Merse nahm den Bus nach Wenningstedt, ging, vom Duft der überall auf den Feldsteinwällen blühenden Heckenrosen beglückt, über die Straße die kurze Strecke zum Bunker, wie er Barbaras Wohnanlage nannte , und stellte sein Gepäck in dem Apartment ab. Es war alles, wie er es kannte: Der Blick aus dem Fenster zeigte die zum Schullandheim gehörende Wiese mit den Sportgeräten und dem Fußballplatz, drinnen stand das Doppelbett in einer Nische, vor dem Fenster die Couch mit dem ovalen Couchtisch, auf dem zwei Beutel mit Go-Steinen lagen, diesseits des Glasovals ein Sessel, in der Ecke der Fernseher, an die Kochnische anschließend ein ausziehbarer Esstisch mit zwei Stühlen. Er würde sich später einrichten. Jetzt zum Kliff!
Rasch ging er mit seinen lang ausholenden Schritten am Haupthaus des Schullandheims vorbei. Er nahm nicht den direkten Weg zur Promenade, wo es von Menschen wimmelte, die an dem unvermeidlichen Fisch-Gosch vorbei die breiten Holztreppen zum Strand hinuntertrabten, sondern wählte den nördlicheren Zugang von einer der neu erbauten, feinen Siedlungen aus. Hinter den reetgedeckten Häusern stieg der Weg zwischen Heckenrosen und Strandhafer an. Herr Merse lief mit der Ungeduld des sechsjährigen Ingo, dem nach der » Watt«-Enttäuschung das » offene Meer« verheißungsvoll in Aussicht gestellt worden war. Tief atmend, gelangte er auf den Holzbohlenweg, der oben auf dem Kliff parallel zum Meer verlief und in die Strandtreppe mündete. Unter und vor ihm erstreckte sich wie in einem riesigen Amphitheater das grandiose Strand-Meer-Himmel-Panorama, das sich nach rechts, links und vorn ins Unendliche ausdehnte. Er starrte auf das Meer mit den langsam und rhythmisch heranrollenden Wellen. Das Brandungsrauschen und der Wind hüllten ihn in Altvertrautes ein. Das blieb also. Mit der Salzluft sog er den trockenen Duft des Strandhafers ein, in den sich, wenn Fußgänger nah an ihm vorbeikamen, ein Hauch verschiedener Sonnencremes mischte. Herr Merse liebte von früher her den Geruch von Delial, einer Sonnenmilch in orangefarbener Flasche, auf der sehr schlanke braune Frauen in elegant-fröhlicher Haltung abgebildet waren.
Versunken zog er Schuhe und Strümpfe aus und stieg die breite Treppe hinab. Unter den Fußsohlen spürte er die
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