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Herr Merse bricht auf

Herr Merse bricht auf

Titel: Herr Merse bricht auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Nohr
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dem Horntrio. Als Dagmar ihn mit ihrem » zweimal Blech« vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, war er tagelang herumgeirrt, hatte weder geschlafen noch gegessen, sich mit bohrenden Fragen ausgehöhlt und mit schneidender Selbstverachtung verhöhnt. Er ging nicht mehr zur Arbeit, bestellte alle Schüler ab. Die neue Wohnung war eine reine Bleibe und sah auch so aus. Er konnte nicht allein sein. Er musste reden, reden, reden. Monoton wälzte er dieselben Fragen: » Wieso habe ich es nicht gemerkt?« » Was fehlte ihr?« » Wie kann ich sie wieder umstimmen?« Er saß die Nachmittage und Abende über bei Barbara, die ihn erst aus Mitleid ermuntert hatte, zu ihr zu kommen, aber bald genervt reagierte und ihn zu einem Neurologen drängte, ihn schließlich persönlich zu einem brachte ( » schleppte«). Dort wurden ihm erst Tranquilizer verschrieben, dann, als die nichts bewirkten, Antidepressiva. Dazu Schlafmittel. Er hatte alles wortlos akzeptiert, aber unzuverlässig eingenommen, war bedröhnt vor ein Auto getaumelt, das noch rechtzeitig einen Schlenker um ihn machte. Zufällig war der Fahrer » vom Fach«, wie er selbst sagte, ein Psychiatriepfleger, der Herrn Merse im ersten Moment beschimpfte, dann seinen Zustand erfasste, freundlich-professionell auf ihn einredete und ihn ohne Weiteres davon überzeugte, dass er in einer Klinik besser aufgehoben sei. Herr Merse sagte nicht Ja, nicht Nein. Der Pfleger nahm ihn einfach mit.
    Tatsächlich brachte die Klinik Abstand. Die Medikamentierung wurde passender auf ihn eingestellt, die Einnahme überwacht, er aß, was ihm vorgesetzt wurde. In Gesprächen stand zu seinem großen Staunen er im Mittelpunkt, man wollte etwas von ihm wissen, das er selbst nicht wusste, und Dagmar war nicht da, an der er sich orientieren konnte. Aber die Gespräche halfen ihm nicht. Weil er Dagmars Abwendung eben nicht verstand. Besser war die Musiktherapie. Herr Merse war Teil einer Gruppe, die aus acht Patienten bestand. Er war aber hier nicht » zuständig« wie sonst immer. Er leitete gar nichts an. Er hatte sein Horn nicht dabei und stellte sich als Grundschullehrer vor, der Blockflöte unterrichtete. Er hatte vorher bemerkt, dass keine Blockflöten als Instrumente zur Verfügung standen. Er benutzte ausschließlich Trommeln und Schlagwerk. Am liebsten saß er still dabei. Er nahm in sich auf, was die anderen an Tönen und Geräuschen hervorbrachten, und wenn die Musiktherapeutin sich ihm zuwandte, schwieg er beharrlich. Weil sie ihm leidtat, erklärte er ihr einmal angestrengt: » Ich bin der Klangstaubsauger. Sauge alles auf. Und irgendwann bin ich voll. Und platze. Aber jetzt noch nicht.« Die Therapeutin setzte viel daran, ihn zum » Platzen« zu bringen, aber es gelang nicht. Er tröstete sie: » Diese Klänge füllen mich nun aus, und damit vertreiben sie das, was vorher war, das Gedankenmühlrad und den Schmerz.« Er lächelte sie aus seinem schmalen Gesicht heraus an, er hatte abgenommen. Sie stimmte ihm schließlich zu, dass Klangstaubsaugen für ihn ein Fortschritt war.
    Nach der Klinik hatte Herr Merse wieder mit dem Arbeiten angefangen, eine ihm dringend ans Herz gelegte Psychotherapie jedoch abgelehnt. Mit Dagmar zusammen hatte er Paargespräche machen wollen, aber Dagmar lehnte so etwas strikt ab. Sie brauche keinen » Seelenklempner«. Er hatte in der Klinik gelernt, sich » mit anderem« aufzufüllen, und das reichte ihm. Die Tabletten nahm er weiter ein, sie halfen, Erinnerungen und Fragen fernzuhalten. In den Unterrichtsstunden war er ganz da, mehr als früher; er nahm den Unterricht sehr wichtig, denn hier fand nun sein Leben statt. Zu neuen Freundschaften oder Beziehungen hatte er keine Lust. Barbara hatte allerlei versucht, um ihn » unter Leute« (sie meinte natürlich: an eine neue Frau) zu bringen, aber er blieb zurückgezogen, las, schaute fern, surfte manchmal in Pornoseiten, schlief viel. Nur durch gelegentliches Muggen traf er auf neue Menschen. Auch auf Frauen.
    Bei seinem letzten größeren Aushilfsjob bei den Hamburger Symphonikern hatte er eine sehr junge Geigerin kennengelernt, Yvonne, die ihn fragte, ob er den Hornpart im Brahms-Trio übernähme. Die Anfrage der schüchternen jungen Frau hatte ihn tagelang in Unruhe versetzt. Er erhöhte die Tablettendosis. War er als Hornist oder als Mann gemeint? Er hatte sich Bedenkzeit ausgebeten, indem er vorsichtig ausgebucht tat, und sagte schließlich, da es erst im Sommer des nächsten Jahres sein sollte, zögernd

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