Herr Merse bricht auf
Strippe dreifach um den Griff des Hornkastens, dann um eine Schlaufe seiner Jeans und verknotete die Enden. Den Hornkasten schloss er ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche. Er wollte mit dem Horn eingeliefert werden. Mit seiner Glücksspirale. Wie man das Horn in Orchesterkreisen nannte. Weil ’s Glückssache war, ob ein Ton oder ein Kiekser herauskam. Hatte ihm Dagmar erzählt. Wenn er noch eine Chance im Leben bekäme, dann nur mit der Glücksspirale. Und wenn es zu spät wäre für Wiederbelebung, dann wollte er mit Horn begraben werden.
Vor seinem müden inneren Auge schien ein Gesicht auf: ein bärtiger, wohlwollender Psychiatriechefarzt, leidenschaftlicher Musikliebhaber, der am liebsten Hornist geworden wäre, aber die väterliche Medizinertradition hatte fortsetzen müssen. Jetzt hier in Bredstedt festgenagelt saß und zu Höhepunkten seines Lebens nach Hamburg in die Oper oder in die Musikhalle fuhr. Dieser Direktor würde in dem eingelieferten Hornisten seine Chance sehen. Sich selbst in ihm behandeln. Ihn erst mal aus dem Koma erwecken. Nach ihm schauen, ihm Tee bringen, sich an sein Bett setzen. Ihn ermuntern zu erzählen und für sich zu behalten, was und wie er wollte. Dann dürfte er langsam wieder aufstehen. Der Direktor würde ihn zu sich rufen, ihm sein im Chefzimmer aufbewahrtes Horn überreichen und nach einem ersten kurzen Gespräch sich etwas vorspielen lassen. Er, Ingo, würde ohne vorheriges Üben den schwebend-traurig dunklen Beginn des ersten Satzes aus dem Horntrio vortragen und die rasende Jagdhornmotivik des letzten hell daherschmettern. Das Scherzo und den Trauermarsch würde er sich für später aufheben. Der Direktor würde ihm daraufhin ohne weiteres Zögern ein abgelegenes, von Glyzinien umranktes Turmzimmer anweisen, wo er üben konnte, wie und wann er wollte. Er würde täglich nach seinem Üben und seinen Fortschritten und auch Rückschritten fragen. Die vormittäglichen Gespräche würden mit der Frage beginnen: » Wie geht’s Ihnen mit und ohne Horn?« Und dieses Interesse wäre echt. Gelegentlich würde er ihn auch zu seinem alten Hamburger Lehrer schicken. Mit Rückfahrkarte. Jeden Nachmittag würden sie ein paar Seiten im » Mann ohne Eigenschaften« lesen und darüber debattieren. Interessierte Assistenzärzte durften dazukommen, so dass sich langsam eine Gruppe herausbilden würde, in der er, Ingo Merse, ein geschätztes Mitglied wäre. Hier würde er auch gelegentlich auf Nachfrage über Brahms referieren, der Direktor wäre ein Brahms-Kenner und -Liebhaber und würde Bilder an die Wand werfen. Mit Bart, ohne Bart. Der Direktor würde ihn am Wochenende in seine Familie einladen. Er hätte eine nette, etwas füllige, aber mit ihrem Körper in dem wunderbaren Einklang einer Negerin lebende Frau, Tanztherapeutin. Die beiden hätten zwei erwachsene Töchter, die eine Geigerin, die andere Pianistin. Die ältere, die Pianistin, wäre mit dem Oberarzt verheiratet, die Geigerin fünfunddreißig Jahre alt und ledig. Gerade von einem Mann verlassen worden. Mit ihnen würde er das Horntrio einstudieren. Herr Merse hörte ganz deutlich, wie die Geigerin mit dem Thema begann. Sie begann, er löste den schmalen Geigenklang mit seinem samtigen Horndunkel ab, alle damit sicher umfangend… Sie würden üben und proben, proben und üben, jeden Tag. Und dann würden sie, vermittelt vom Direktor, erst in Bredstedt in der Aula des Gymnasiums eine öffentliche Generalprobe abhalten, dann in Husum in der Stadthalle mit Erfolg auftreten, danach durch Schleswig-Holstein auf Tournee gehen. Und einmal auch auf Sylt: in Westerland und im Vortragssaal in Klappholttal spielen. Dazu auf einem Mittwochskonzert in der Keitumer Kirche. Hierzu würde er Barbara und Oskar eine Einladung zukommen lassen, auch Dagmar. Die Frau vom Direktor würde Annemarie Luner ergoogeln, und er würde ihr eine Karte schreiben und sie auch einladen. Sie würde aber nicht kommen. Er und die liebenswürdige, zurückhaltende und sanfte, im Trio auch bestimmende, aber nie wie Dagmar dominierende Geigerin würden allmählich ein Paar werden. Sie würden heiraten, und er würde Johannes und Ulrich zur Hochzeit einladen, Johannes würde einen Walzer und einen ungarischen Tanz spielen und ihm zur Hochzeit das Hornsolo in der vierten Symphonie schenken; Ulrich würde eine österreichische, geheimnisvoll-verspielte Rede halten und einen sehr gut sitzenden Smoking tragen. » Johannes«, murmelte er, » das wär’s doch,
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