Herr Möslein ist tot (German Edition)
in Paraguay, ich kann meinem Kind in ihrer Amsterdamer Wohnung beim Telefonieren in die Augen schauen. Jede neue Information, jedes Bild, jedes Ereignis wird in Sekundenbruchteilen in die ganze Welt übermittelt. Das geht im neuen Jahrtausend so schnell, dass es unmöglich wird, alle neuen Entwicklungen vollständig und grundlegend geistig zu durchdringen. Vor allem, wenn man die Vierzig bereits überschritten hat. In meinem Alter überfordert es mich zum Beispiel, alle Funktionen auf meinem Handy zu verstehen. Darum befasse ich mich nur mit neuer Technik, wenn die alte nicht mehr funktioniert. Dass ich von Reisen in die Vergangenheit bisher nichts gehört habe, hat deshalb gar nichts zu bedeuten.
Beim dritten Schnaps überkommen mich große Abenteuerlust und Allmachtsgefühle. Ich kann mein Leben ändern! Natürlich zum Positiven! Der Grund meiner Zeitreise liegt vor mir auf dem Tisch, an meiner linken Hand. Statt eines »Al« habe ich den Ring von Carsten, der mir sagt, was ich zu tun habe: Ich soll Carsten schon im Wendejahr 1989 finden, und wenn er sich dann genauso schnell wie beim ersten Blind Date 2006 in mich verliebt, entschwinde ich ratzfatz wieder in mein Bett mit der rückenschonenden Matratze ins Jahr 2012. Der Grund dafür scheint einleuchtend: Ich spare mir die Umwege und Enttäuschungen über Ingo und Flo und starte schon mit Mitte zwanzig in eine glückliche Zukunft an der Seite eines starken, verständnisvollen und vor allem High-Heel-kompatiblen Partners! So weit, so klar. Aber wo ist Carsten? Ich weiß es nicht ganz genau, aber ich vermute, dass er bereits in Westberlin lebt. Carsten hatte 1989 einen Ausreiseantrag gestellt. Er wollte seiner Mutter nach Westberlin folgen. Dass beide, die Schwiemu und Carsten, mir trotz intensiver Nachfrage nie sagen konnten, wann genau Carsten ausgereist ist, spricht nicht dafür, dass ihr Wiedersehen emotional beglückend war, denke ich und ärgere mich jetzt doppelt darüber, weil mich dieses Nichtwissen nun bei der Suche nach meinem Traummann behindert. Nach dem nächsten Klaren arbeitet mein Gehirn auf Hochtouren. Wie kann ich ihn ohne Internet, Handy und GPS , aber mit dem Risiko, die Kumpels von Mielke auf mich aufmerksam zu machen, finden? Noch ein Schnaps, und plötzlich ist mir klar, wie ich meine historische Mission erfüllen kann: Jürgen! Jürgen aus Westberlin kann mir helfen! Natürlich unter Aufbietung aller Vorsichtsmaßnahmen. Nicht, dass Heinzis Freundin wieder irgendwas in einer Akte liest.
Ich schenke mir zur Belohnung noch ein Gläschen vom Blauen Würger ein und freue mich. Meine Hormone tanzen bei dem Gedanken an einen blutjungen Carsten mit Sixpack und sinnlichen Lippen. »Prost, Tati! Carsten wird wüst süß und urst knackig aussehen, eben ein schauer Typ sein!«, rufe ich im typischen Achtziger-Sprachgebrauch den bulgarischen Holzeierbechern an der Wand entgegen.
Es geht voran
Seit ich heute früh mit der auf meinem Bauch sitzenden Pauli und Brummschädel aufwachte, bin ich mir endgültig und absolut sicher, dass ich nicht in einem Albtraum gefangen bin, sondern mit eindeutiger Mission hierher transferiert wurde. Da passt es gut, das mich Jürgen heute Nachmittag besuchen will. Pauli frühstückt ohne viel Plapperei. Sie ist ein ständig hungriges Kind, was sie auch figürlich nicht verbergen kann. Aber das ist bei einer Vierjährigen noch nicht wichtig. Ich weiß, dass sie bis zur Schuleinführung ihren Babyspeck verlieren wird. Viel wichtiger ist, dass ich nachdenke. Ich kaue an einer Marmeladenstulle. Dank meiner Lieblingsfernsehserie »Zurück in die Vergangenheit« weiß ich, dass ich bei der Carsten-Suchaktion auf keinen Fall das Leben anderer beeinflussen darf. Das könnte schlimme Folgen haben und Menschen, die mir nahestehen, aus der Bahn werfen oder ihnen die Zukunft verbauen. Ich könnte sogar die Geschichte Europas versauen. Wenn ich meinen Mund nicht halten kann, steht eventuell sogar die Wende infrage. Um Himmels willen, das darf nicht passieren! Wenn die Stasi erfährt, was ich weiß, dann könnten sie Schabowski schon jetzt verhaften oder die Pressekonferenz absagen, und alles wäre hin. Wenige Gedanken später steige ich zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren in meinen eigenen Trabi. Pauli, die ich in den Kindergarten bringen werde, wusste, wo er steht. Sein Geruch erinnert mich an 3,20-er Zigaretten, Plaste und Elaste und Braunkohle, aber leider nicht an wichtige Dinge. Schon nach 500 Metern, noch vor dem
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