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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Meissner
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mich beiläufig, wie ich unter diesen Bedingungen groß und stark werden konnte: so ganz ohne Bifdis- DL -Kulturen in der Baby-Milch. Weil ich es eilig habe, nehme ich die auf ein sozialistisches Minimum reduzierten Wahlmöglichkeiten wohltuend wahr. Ich muss mich nicht zwischen vielen verschiedenen Broten, Joghurts oder Kuchen entscheiden. Hier gibt es Brot, und ich kann es nehmen oder nicht. Ende der Auswahl. Auch in einer Kaufhalle hat alles seinen Preis, aber DDR -weit nur einen. Egal ob Konsum oder HO . Zum Glück finde ich meine geliebten Kenton, kaufe noch Leckermäulchen-Quark und Gummibären für Pauli, KIM -Eier, Milch in der Tüte, Eberswalder Würstchen und in der Assiette gebackenen Kuchen. Am Obst- und Gemüsestand gibt es Kartoffeln, Weißkohl, Rotkohl und viele Gelbe Köstliche, von denen ich gerade ein paar aussuchen will, als mich Freundin Gisi von hinten antippt.
    »Na Tati? Hab ’nen heißen Tipp für dich. Im Konsum in der Thälmannstraße sollen sie Kuba-Orangen haben.« Gisi, die aussieht wie ihre eigene Tochter, flüstert diese sensationelle Neuigkeit fast.
    »Oh, ja? Leider habe ich keine Zeit. Betty wartet. Wir haben Training«, antworte ich und bin vom Anblick meiner alten, sehr jungen Freundin irgendwie gerührt.
    »Wenn ich es schaffe«, antwortet sie, »bringe ich dir und Pauli welche mit.«
    »Och nö, lass mal … Kuba-Orangen. Die gibt ’ s doch öfter. Die sind mir zu strohig!«
    Sollte Gisi jetzt sauer sein, so sehe ich ihr das nicht an.
    »Sehen wir uns demnächst?«
    »Bestimmt!«, sage ich unverbindlich.«Ich weiß ja nicht, wie lange ich noch hier bin!«
    »Wo willst du denn hin? Ich denke, die Ostseetournee im Sommer war die letzte längere Reise für dieses Jahr?«
    »Ach ja?« Ich ärgere mich über mein unüberlegtes Geplapper und sächsle prompt: »Das hatte isch doch gladd von meinor Festpladde gelöscht!«
    Gisi guckt mich verblüfft an, sagt: »Bis bald!«, und geht. Wahrscheinlich sucht sie jetzt in allen vorhandenen Wörterbüchern nach »Festpladde«. Lehrer haben es nicht leicht.
    ***
    Das Tanztraining läuft wie ein Länderspiel. Betty zeigt mir ihre Choreografien, und ich tanze sie sofort nach. Bin eben ein Koordinations- und Konzentrationstalent! Wenn das so weitergeht, ertanze ich mir ein paar freie Tage, um Carsten zu suchen.
    Pünktlich um 14.30 Uhr bin ich wieder zu Hause. Heinzi ist – wie immer – noch bis 17 Uhr auf Arbeit ist. Ja, richtig: »Auf Arbeit«, so sage ich es bis heute. Bei einem Interview, das ich 2010 mit dem Moderator und Liebhaber der deutschen Sprache Ulrich Meyer führte, korrigierte er mich, denn richtig ist: »bei der Arbeit« oder »im Büro«. Ossis waren und sind aber immer »auf Arbeit«. Vielleicht, weil das Wo wichtiger war als das Wie. Jedenfalls bin ich froh, dass Heinz dort ist, er würde sonst nur stören. Während ich Kaffe koche, den Streuselkuchen aufschneide und die Igelit-Tischdecke mit meinem guten Zwiebelmuster-Geschirr vollstelle, überlege ich, wie mir Jürgen bei der Suche nach Carsten behilflich sein könnte. Er muss irgendwie rauskriegen, wo Carsten in Westberlin lebt – wahrscheinlich bei seiner Mutter – und arbeitet – in irgendeiner Bar, nehme ich an –, damit ich ihn bei Bettys und meiner ersten Dienstreise nach Westberlin, die irgendwann in den nächsten Wochen genehmigt wird, aufsuchen und verliebt machen kann.
    Es klingelt. Jürgen steht schon vor der Wohnungstür und grinst mich an. Sein Mund zieht sich dabei fast von einem Ohr zum anderen. Seine Augen strahlen blau durch die Brillengläser, die Jeans und die Blusonjacke scheinen ihm zu groß zu sein, dagegen schnüren Hemdkragen und der ultimative Schlips seinen dünnen Hals fast ab. Lang und schlacksig steht er vor mir und hat eine ALDI -Tüte in der Hand.
    »Na?«
    »Na?«, antworte ich. Während er zielgerichtet meine Küche ansteuert, bin ich mir wieder sicher, dass er zwar wirklich nett, aber absolut nicht mein Typ ist. Ich schenke Kaffe ein, und er legt stolz ein Kilo Bananen auf den Tisch. »Bananen!«, sagt er. Ich kann es nicht lassen und antworte: »Ehrlich, so sehen Bananen aus?«
    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er meinen Humor verstanden hat, als er sagt: »Na dann ist das ja genau das richtige Geschenk, wenn du noch nie welche gesehen hast.«
    »Ja, bis heute habe ich jede Gurke für eine verkleidete Banane gehalten. Danke dir!«
    »Kannst du jetzt öfter haben.« Er lehnt sich humorlos an meinen bedenklich wackelnden Küchenstuhl.

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