Herr Möslein ist tot (German Edition)
Zahlen, während Pinki in einem Kasten mit Kontoauszügen und Karteikarten wühlt, mit einem kurzen Nicken den Stapel Meissner vor sich auf den Tisch legt und dann, so laut, dass es wirklich jeder im Raum hören muss, hysterisch schreit: »Frau Meissner, sie hatten am 3. September ihr Konto um 15 Pfennig überzogen! So etwas ist absolut verboten. Absolut, Frau Meissner!« Ich bin froh, dass mich hier höchstwahrscheinlich niemand kennt. Nach meiner Karriere als MDR -Moderatorin und später als Kabarettistin wäre mir dieses Glück nicht zuteil geworden. Trotzdem bin ich empört.
»Warum schreien Sie so? Sie haben doch auch nicht geschrien, als 1000 Mark auf dem Konto waren!«, raune ich über das uns trennende Glasfenster.
»Wenn Sie jetzt frech werden, kann ich auch anders. Wir hätten das Konto sperren sollen!«
Ich bin genervt. Hätte ich mir sowas früher gefallen lassen? Bestimmt, ich habe Stress und Auseinandersetzung schon immer gehasst. Aber heute habe ich als gelernter Bundesbürger darauf keinen Bock mehr und antworte mit einem falschen Lächeln und jedes einzelne Wort betonend: »Da Sie in der Vergangenheit sprechen, liebe Frau ….«, ich gucke auf ihr Namensschild, das gleich zusammen mit Busen und Schultern wie eine Streubombe von Pinki abplatzen wird, und lese »Hess«, »also, liebe Frau Hess, gehe ich davon aus, dass jetzt Geld auf meinem Konto ist. Bitte geben Sie mir davon 100 Mark. Den Rest dürfen sie zur Wiedergutmachung vorübergehend für Ihre Zwecke nutzen.« Dabei schiebe ich ihr den Auszahlungsschein durch die Glasluke.
»Können Sie nicht lesen?«, kreischt die Streubombe. »Hier müssen sie unterschreiben!«
»Jetzt passen Sie mal auf«, zische ich mit Blick auf den Ehering an ihrem fleischigen Finger zurück. »Wenn Sie sich zu Hause ähnlich benehmen wie hier, wird sich Ihr Mann bald scheiden lassen, und dann werden Sie erfahren, wie es ist, wenn Sie nicht nur Ihre gesamten Habseligkeiten, sondern auch Ihr Einkommen mit Ihrem Mann teilen müssen. Und wenn Sie sich dann ein neues Jackett kaufen, weil das alte geplatzt ist, werden Sie um mehr als 15 Pfennig überziehen!« Den letzten Satz sage ich so laut, dass ein Raunen durch die Schalterhalle geht. Schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte, gibt mir Pinki mein Geld und zwei Streifen mit schief und krumm gedruckten Zahlen und Worten, meinen Kontoauszug, der mir anzeigt, dass 51,50 M für die Miete das Konto überzogen hatten. Allerdings hatten wenig später die Honorarzahlungen für Auftritte im Orion, einer Disco hier am Stern, und im Kahleberg, der bald verwaisen und dann abgerissen werden wird, mein Konto um ein Vielfaches der geringen Mietsumme wieder aufgefüllt. Ich lächle der Streubombe freundlich zu und nicke zum Abschied. Na also, denke ich, hätte ich früher schon gewusst, dass klare Ansagen hilfreich sind, hätte ich mir viel sozialistischen Dienstleistungsärger erspart!
Noch etwas aufgewühlt renne ich durch den Supermarkt, der Kaufhalle heißt, und passiere die langen Regale, gefüllt mit den immer gleichen, recht farblos verpackten »Waren des täglichen Bedarfs«. Hier riecht es nach Pappe und Mehl. In der Nähe der Fleischtheke strömt mir ein seit vielen Jahren nicht mehr wahrgenommener starker Fleischgeruch in die Nase. Der Duft im Gang mit den Drogerieerzeugnissen erinnert mich an Omas gekochte und gestärkte Bettwäsche auf der Leine im Hof. Ich schnüffle an einer Packung Spee, schüttle eine kleines blaues ATA -Päckchen, dessen wahrscheinlich klumpiger Inhalt sehr schwerfällig an die Papphülle schlägt. Um mich herum höre ich quietschende Einkaufswagen, unverständliches Gemurmel und ein vielstimmiges Rascheln. Sonst nichts. Keine Musik beschwingt meinen Schritt, keine Durchsage wirbt für das Angebot, kein Verkäufer kreuzt meinen Weg. Am Regal mit den Süßigkeiten rufen Katzenzungen, Liebesperlen und Bambina-Schokolade wohlige Kinderkuschelerinnerungen in mir hervor. Ich packe eine Schlagersüßtafel für Carsten ins Körbchen. Die mag er so gern, und ich werde sie ihm schenken, wenn wir uns treffen. Noch ein Regal weiter greife ich neugierig eine Papiertüte, die laut Etikett mit Haferflocken gefüllt ist, und nehme wohlwollend wahr, dass da – wie der Aufdruck verspricht – wirklich Haferflocken drin sind und es noch keine Cerealien und anderen Unfug in Nahrungsmitteln gibt. Ich renne an der Babynahrung KINA vorbei, mit der mich auch meine Mama als Kleinkind fütterte, und frage
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