Herr Möslein ist tot (German Edition)
werden Betty und ich im Oktober vor jeder Menge wichtiger Menschen aus der Tanzszene und dem Komitee für Unterhaltungskunst in der Kleinen Revue des Friedrichstadtpalastes vortanzen und dann, wie ich ja weiß, eine Höherstufung bekommen. Die beste des Abends! Ab Ende Oktober dürfen wir dann statt bisher 133 sogar 208 Mark netto pro Auftritt kassieren. Das ist für DDR -Verhältnisse eine Menge Geld, wenn man nicht gerade mit Heinz verheiratet ist und ein gemeinsames Konto hat.
»Wir fangen mit der Spinne an!«, reißt mich die emsige Betty aus meinen Gedanken.
Oje, dass ist die Verbiegenummer, die wir mit Fackeln zu dem Song »Spiderman« von The Cure tanzen werden. Ich ziehe meine Trainingsklamotten an. Obwohl an diesem Tag draußen zweistellige Plusgrade herrschen, ist es in diesem fast fensterlosen, düsteren Saal ziemlich kalt. Ich habe Angst, dass meine alten Knochen bei diesen Temperaturen versagen könnten. Betty drückt auf den Play-Button des Annett-Recorders und spult zur richtigen Stelle, damit wir lostanzen können. Während der Vortakte nehme ich meine Fackeln in die Hand, und schon mit dem ersten Ton fällt mir alles wieder ein. Unglaublich! Ich tanze! Mein Kopf ist leer, doch mein Körper findet sich zurecht. Bein hoch, Plié, Arme zweite Position, Oberkörper isoliert links – rechts, jetzt Spagat und Fackelbecher abstellen, Spagatrolle, Beine an den Kopf, aufrichten, dicht an Betty und jetzt die Brücke – jaaaaa – es geht! Ich kann sogar meinen Kopf durch die Beine gucken lassen. Ich wusste gar nicht mehr, wie schön es ist, wenn der Körper in allen Einzelteilen fast schmerzfrei funktioniert. Der alte The-Cure-Song, den ich fast schon vergessen hatte, reißt mich mit und spült dabei alle Emotionen hoch, die mich vor langer Zeit bewegten. Ich bin so enthusiasmiert, dass ich tanze und tanze und tanze und überhaupt nicht bemerke, dass Betty einfach neben mir stehen geblieben ist.
»Was machst du da?«, sie schaut mit verschränkten Armen auf mich herab. Ihre großen Augen gucken überrascht und irgendwie anerkennend. Ich halte in meinen Bewegungen inne und gucke verunsichert zurück. »Äh, war was falsch?«
»Nein, du hast eine Choreografie getanzt, die ich noch gar nicht gestellt hatte. Aber gut, sehr gut! Einwandfrei! Ich hätte es genauso gemacht!«
Ich stolpere kurz über das alte Wort »einwandfrei« und freue mich über Bettys Lob. Wenn sie wüsste, dass das sowieso ihre Choreografie war! Zum ersten Mal, seit ich heute aufwachte, bin ich glücklich. Beim Tanzen.
»Na, dann! Lass uns üben, Betty! Wir haben wenig Zeit, insgesamt wollen wir bis zur Einstufung fünf Tänze einstudieren, nicht wahr?«
Geteilte Wohnung
Wenn ich nicht vorher aufwache, wird die nächste Probe morgen um elf Uhr beginnen. Im Moment sitze ich neben dem Außenwandgasheizer in meiner alten, von Heinz holzgetäfelten Küche unter dem – auch von Heinz – gedrechselten Regal, in das ich lustige Keramikbecher aus Bulgarien gestellt habe. Apropos Heinz. Da war doch was. Ich greife den durch Betty verwedelten Gedanken wieder auf. Bin ich nun geschieden oder nicht? Ich gehe ins Wohnzimmer, um nach aufschlussreichen Papieren zu suchen. Direkt an der Stirnseite steht mein Nachttisch mit Marmorplatte, den ich von meinen Eltern für meine erste Wohnung geschenkt bekommen hatte und heute immer noch habe. Er hat nur ein kleines Schubfach und zwei klitzekleine Fächer hinter der Tür. Zielgerichtet öffne ich diese und finde einen bemerkenswert kleinen Stapel Belege: Kontoauszüge, Scheckheft, Geburtsurkunden und Schulzeugnisse. Ich greife eine Mappe selbstgemalter Bilder von Pauli. Obenauf liegt ein Blatt mit rotem Tuschegekrakel, darunter hat die Krippenerzieherin vermerkt: »Wir malen eine Arbeiterfahne.« Ich muss grinsen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich in Anbetracht dieses Bildes einer damals Dreijährigen auch glauben, wir ostdeutsch Sozialisierten litten unter einem Kindheitstrauma durch kollektives Kacken und Arbeiterfahnen. Unter der Mappe befindet sich ein Stofftäschchen, prall gefüllt mit vier »Abzeichen für gutes Wissen«, einem Abzeichen vom 9. Tanzfest der DDR in Rudolstadt, einem »Für vorbildliche Leistungen zu Ehren der DDR «, vier »Für gute Arbeit in der Schule«, zwei GST -Abzeichen (Gesellschaft für Sport und Technik) und jeweils einem vom DRK und vom Kulturbund. Ich wühle weiter in meiner Vergangenheit und finde endlich die alte, jetzt niegelnagelneue Scheidungsurkunde vom
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