Herr Möslein ist tot (German Edition)
die Ud SSR ? Ich streife alles über und vermute, dass ich mich ungefähr im Jahr ’ 88/89 befinden müsste. Vorher hatte ich den Pullover noch nicht.
Es klingelt. Wo ist mein Handy? Im Flur? Ich suche auf dem Schuhregal, ziehe den Vorhang zur Seite. Nichts. Es klopft an der Tür. Ach so. Ich habe die Wohnungstür kaum geöffnet, da rattert eine Schimpfkanonade auf mich ein. »Tati, wo bleibst du? Wir sind seit zehn Uhr zur Probe verabredet!« Betty steht vor mir. Sie schüttelt ein paar Regentropfen aus ihrem blonden Pagenkopf. Mein Gott, sieht die jung aus! Ich bin so verblüfft, dass ich stocksteif und stumm in der Tür stehend verharre. Betty, stupst mich zur Seite und stürmt meinen Flur. »Los, pack dein Zeug zusammen, wir haben keine Zeit!« Ich schaue ihr fassungslos hinterher und konzentriere mich auf das im Moment für mich Fassbare. Ihre Klamotten. Betty trägt eine Stonewashed-Jeans, dazu ein schwarzes Shirt und eine sehr weite, schultergepolsterte, schwarz-weiß gestreifte Strickjacke. Typisch Achtziger-Jahre-Style. Jetzt dreht sie sich zu mir um und stützt die Hände in die Hüften. »Hallo, Tati?«
»Ähm, ja?«
»Was ist los?«
»Du bist so schlank!«, sage ich nur und wundere mich, dass Betty trotzdem so viel Brust hat. Im Gegensatz zu mir. In meiner Verwirrung strecke ich ihr meinen Kopf für den obligatorischen Begrüßungskuss entgegen und spitze die Lippen. Betty zuckt erschreckt zurück, und mir ist das peinlich. »Tati?«, fragt sie mich, »Alles in Ordnung mit dir?«
»Entschuldige Betty. Ich muss irgendwas verpennt haben. Was haben wir heute für einen Tag?«
»Heute ist Montag, der 11. September!«
»Welcher?«
»1989!«
»Isch wörde blöide!«, sächsle ich. »Neununachzisch? Un die Mauer steit noch, un die Kumbels lassen alles stein un lieschen und machen rüber?« Ich sächsle immer, wenn ich lustig sein will oder komplett verwirrt bin. Und ich bin verwirrt. So einen perfekten, realistisch wirkenden Traum hatte ich noch nie.
»Tati, ich weiß nicht, was du da redest, aber mir ist nicht zum Scherzen. Wir haben den Raum nur bis um zwölf!«
»Gestern hatte Ingo Geburtstag!«, fällt mir ein. Ich vergesse die Geburtstage meiner Ex-Lover nie.
»Ach deswegen! Du warst zum Geburtstag.« Betty scheint erleichtert. Sie hat eine Erklärung für mein Verhalten gefunden. »Ja, Tati, der Ingo, der ist wüst süß. Hast du was mit dem? Wundern würde es mich nicht, jetzt wo du Heinz los bist!«
»Ich bin Heinz los?«
»Ja?! Natürlich! Was stellst Du denn für Fragen?« Betty guckt mich sorgenvoll und irgendwie mütterlich an. Aber in meinem Kopf ist kein Platz, über Bettys Sorgen nachzudenken, in meinem Kopf rattert es. Wenn ich annehme, dass sich dieser Traum an der Realität orientiert, dann öffnet Ungarn gerade seine Grenzen und Tausende DDR -Bürger werden in den nächsten Wochen das Land verlassen.
Betty scheint mir sehr real. Sie schaut mich so erschüttert an, wie ich mich gerade fühle. Hat sie mein Versuch eines Begrüßungskusses aus der Bahn geworfen? Am 11. September ’ 89 habe ich noch niemanden zur Begrüßung geküsst. Nur die Hand gegeben. Überhaupt hat kein Mensch wahllos um sich rum geküsst, einfach so. Erst Kumpel Ronny hatte mich 1990 zu diesem Begrüßungsritual gezwungen. »Pappalapapp, Tati, heutzutage wird geküsst, wenn man sich mag. Stell dich nicht so an!« Und dann haben wir uns bei jedem Treffen mit jedem einmal geküsst. Das änderte sich in zweimal küssen, nachdem man sich mit dem Einmalkuss als Ossi outete, denn Menschen aus den alten Bundesländern küssten immer zweimal. Links und rechts. Gar nicht küssen ist eine große Erleichterung, denke ich. Betty verhindert, dass ich mich weiter gedanklich sortieren kann. Sie verwedelt jeden klaren Gedanken durch wilde Handbewegungen vor meinem Gesicht. »Halloooo! Tati! Hoffentlich bist du nicht krank, denn in sieben Wochen müssen wir unsere Tanzshow fertig und alle Kostüme besorgt haben! Am 31. Oktober ist Einstufung!«
Nee, alles gut. Burn out gibt’s ja noch nicht! Ich will sofort wach werden!
»Tati? Hör auf zu träumen. Komm schon. Pack deine Trainingssachen und vergiss die Fackeln nicht.«
Betty verzieht genervt das Gesicht und zieht mich in meinen Wohn-Schlafraum. Sie scheint sich gut auszukennen. Ich gehe wie ferngesteuert hinterher und sehe eine Reisetasche neben dem Bett. Ich wühle kurz darin und finde alles, was ich zum Training brauche, auch die Fackeln für den Feuertanz und sogar
Weitere Kostenlose Bücher