Herr Möslein ist tot (German Edition)
eine hellblaue Brotbüchse, die ich mit Wurststullen und einem in Viertel geschnittenen »Goldenen Köstlichen« gefüllt habe. Diese Äpfel gibt es im Gegensatz zu den Damenbinden »Albazell« auch noch zwanzig Jahre nach der Wende. Sehr gut. Ich greife meine Klamotten und freue mich, dass ich schon 1989 so ordentlich war, dass ich mir am Vorabend alles Nötige zurechtgestellt habe. Im Flur vor dem Spiegel liegt ein Schlüsselbund, und an der Garderobe hängt meine schwarze Flickenlederjacke. Ich ziehe sie über und ärgere mich, im Januar ’89 mein wertvolles Westgeld dafür ausgegeben zu haben. Sie wiegt gefühlte 15 Kilo und wurde, wie ich bei einem Blick in den Flurspiegel feststellen muss, sicher nicht nur deswegen gleich nach der Währungsunion von mir entsorgt. Während ich die Wohnungstür abschließe, nehme ich den Geruch von Spee, Milwa und Neptunseife wahr. Sofort denke ich an den wandgroßen, sensationell schönen und alten Apothekenschrank, der die Drogerie im Erdgeschoss dieses Hauses schmückt. Ich hüpfe die Treppe erstaunlich schnell herunter, ohne auch nur einen klitzekleinen Schmerz im Knie, und ich überlege, wo der wertvolle Drogerie-Schrank wohl nach der Rekonstruktion des Hauses 1998 hingekommen und was mit den großen antiken Kachelöfen in den acht Wohnungen passiert sein mag. Das Treppenhaus, dessen lindgrüne Sockelfarbe total verschrammelt, abgenutzt und fleckig vor sich hin gammelt, wurde jedenfalls wunderbar rekonstruiert. Sogar das alte Treppengeländer aus Holz blieb in neuem Glanz erhalten.
Betty steigt in ihren direkt vor dem Haus auf dem Bürgersteig geparkten hellblauen Trabi, öffnet mir die Tür von innen und braust in Richtung Lutherplatz/Bahnhof Babelsberg los. Hier drin riecht es komisch, draußen nieselt es ein wenig. Die Menschen hasten mit Regenschirmen dicht an den grauen, mit Rissen durchzogenen und putzbröckelnden Fassaden der Ernst-Thälmann-Straße entlang. Nur wenige Autos, oder besser Trabis und Wartburgs, brummen über das Kopfsteinpflaster.
»Oje! Wie die Autos stinken. Das ist ja furchtbar!«, mäkle ich. Betty guckt irritiert. »Ich rieche nichts!«, sagt sie. Nach dem Mauerfall habe ich das auch nicht gerochen und den Westberliner Potsdambesuchern Böswilligkeit unterstellt, wenn sie über unsere Trabiabgase schimpften. Jetzt stinkt’s auch für mich. Betty biegt von der Karl-Liebknecht- in die Voltastraße und hält direkt an der Post, die noch keine Rollstuhlrampe hat und irgendwie alt aussieht. Immerhin wird sie im Jahr 2012 eines der wenigen erhaltenen Gebäude aus DDR -Zeiten sein, das unter Denkmalschutz gestellt wird. Vor einer der beiden Telefonzellen schlängelt sich eine Schildkrötenschlange, mindestens zehn Menschen mit Regenschirmen.
»Proben wir im Rathaus Babelsberg?«, rufe ich Betty zu, die eben noch im Sturmschritt über die Straße eilt und sich jetzt erstaunt umdreht.
»Welches Rathaus?«
»Das da!« Ich weise mit der Hand über die Kreuzung.
»Im Herbert Ritter? Nee!« Betty eilt weiter.
Hatte ich total vergessen. Das Rathaus hieß früher »Kulturhaus Herbert Ritter«. Ich schleppe meine Trainingstasche gedankenversunken hinter Betty her und staune wieder, als sie einen Schlüssel aus ihrer Handtasche kramt und eine Tür links in der Bahnhofseingangshalle öffnet.
»Ach, wir dürfen im ›Gleis 6‹ proben?!«, freue ich mich.
»Tati!«, Betty geht in einen großen dunklen Raum mit Bühne und alten vergammelten Holzdielen. »Hier gibt es kein sechstes Gleis!«
Fest steht, an diesen Raum kann ich mich erst nach 1990 erinnern. Aber da war er schon zu einer schicken Kneipe umgebaut, in der ich mich oft mit Freunden traf. Dass ich hier vorher schon mal drin war, ist auf meiner Festplatte völlig gelöscht. Ich beschließe, erst wieder etwas zu sagen, wenn ich meine Situation irgendwie analysiert und begriffen habe. Vorerst will und muss ich mich auf tänzerische Themen konzentrieren. Betty, meine fleißige Tanzkollegin, mit der ich von 1987 bis 1992 als freiberufliche und professionelle Show-Tänzerin zusammenarbeitete und auftrat, war und ist die Probenchefin und Choreografin unseres Duos. Hoffentlich erinnert sich mein Körper noch an die komplizierten Bewegungen. Ich glaube zwar, dass mein Albtraum bald vorbei ist, aber ich will uns Mädels auf keinen Fall die Einstufung versauen. Alle zwei Jahre müssen professionelle Künstler in der DDR ihr Können erneut unter Beweis stellen, sonst wird der Berufsausweis entzogen. Darum
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