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Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)

Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)

Titel: Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Baronsky
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ihr Herz und der Puls an ihrem Hals pochten unvereinbar, laut und deutlich. Dann schrillte die Türklingel ein zweites Mal. Anju starrte Barbara an, schüttelte den Kopf; mit den Zähnen riss sie Hautfetzen von ihrer Unterlippe ab. Er würde noch ein drittes Mal klingeln. Vielleicht trug er auch dieses Mal einen Brief bei sich. Beim Gedanken an seine Briefe wurden ihre Augen nass. Sie hatte nur zwei davon geöffnet, mehr ertrug sie nicht. Die zwar akkurate, doch kaum leserliche Handschrift, die aus einem vergangenen Jahrhundert zu stammen schien, seine schwülstige, teilweise rohe Sprache, die über den eigenen Humor stolperte und aus der doch so viel Zuneigung klang. Briefe eines Kranken. Abermals schrillte die Klingel, und Anju sprang vom Küchenstuhl auf, rannte in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Jeder Gedanke an ihn schmerzte körperlich. Diese unfassbare Offenbarung, die ihn so jäh zu einem andern, zu einem Irren hatte werden lassen und ihn ihr ohne jede Vorwarnung entrissen hatte. Ja, es kam einem Tod gleich, denn sosehr sie sich auch nach ihm sehnte, war ihr doch klar, dass sie diesen Mann, der sie noch vor kurzem gehalten hatte, der ihr nah gewesen war wie kein anderer zuvor, niemals mehr würde finden können. Behutsam, als könne etwas zerbrechen, nahm sie auf der Bettkante Platz, sackte über ihren Knien zusammen und barg das Gesicht in ihren Händen.
    Das Schlimmste war, dass jene Nacht, jene Liebe, an die sie, für eine kurze Zeit, geglaubt hatte, nicht mehr existierte. Sie wischte ihre nassgeweinten Hände an ihren Jeans ab und rollte sich auf der Bettdecke zusammen.
    Fortwährend fiel ihr jener Morgen ein, an dem er in ihre Tasse gepinkelt haben musste. Sie hatte es auf die Fete geschoben, auf den Suff und den Unsinn, zu dem Männer fähig waren, und es leicht verziehen. Jetzt aber verschob sich alles, klang falsch und verzerrt, und alles, was sie vonJost und Enno über diesen Tag hatte erfahren können, schnürte ihre Kehle noch enger zu.
    Und doch war da noch etwas anderes und erhielt Nahrung von jeder Erinnerung, die sie behalten durfte. Von seinen wachen, klaren Augen, mit denen er direkt in ihre Seele zu schauen schien; von der Wärme seiner Haut; von seinen Händen, die sie liebkost hatten, so innig und einfühlsam. Und so, wie seine Hände Anju nie gedankenlos berührt hatten, so hatte sie auch bei seinen Worten niemals das Gefühl gehabt, er sage etwas einfach nur daher; stets, sogar im Scherz, war er mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bei ihr gewesen.
    Erneut schüttelten kleine Schluchzer ihren Brustkorb. Ihre Sehnsucht nahm alles ein, gleich einem Gift, das sich qualvoll in ihr ausbreitete, und das einzige Gegengift war der Gedanke an seinen Wahn, der ihr alles fortriss und der nicht minder schmerzte.
     
    Die Schwellendiele knarrte leise. Als sie aufsah, stand nur Barbara in der Tür, einen Brief in der Hand. Langsam trat sie näher, blieb vor der Bettkante stehen, zögernd, als wage sie nicht, sich neben Anju zu setzen.
    »Hey.« Behutsam legte Barbara den Brief auf das Kissen und strich Anju zaghaft eine Strähne aus dem Gesicht. »Die meisten in dem Alter sind verheiratet.«
    Anju schüttelte sachte den Kopf. »Er nicht«, presste sie hervor.
    »Was denn? Was hat er denn angestellt? Komm, hör auf. Keine Tränen für Typen, das hast du selbst gesagt.«
    »Lass mich allein, bitte. Und … Barbara? Sag den Jungs nichts, okay?«
    Erst als sich die Tür wieder geschlossen hatte, tastete Anju nach den Taschentüchern. Sie griff nach dem Kissen, umfing es mit ihren Armen, kauerte sich gegen die Wand und wog den Umschlag in ihrer Hand. Unwillkürlich fielihr Wolfgangs erster Brief mit der Konzertkarte ein. Sie hatte lange mit sich gerungen, ob sie hingehen sollte, und ihre Sehnsucht war beinahe unerträglich geworden. Schließlich hatte sie die Karte zerrissen und in den Papierkorb geworfen, hatte gewusst, dass es alles nur noch schlimmer machen würde.
    Am Abend des Konzerts hatte sie auf Knien alle Schnipsel wieder herausgesammelt, mühselig mit Klebeband zusammengebastelt und war zum Musikverein gefahren, war lange vor dem Eingang stehengeblieben und erst nach Konzertbeginn hineingegangen. Man hatte ihr keinen Einlass mehr gestattet, und so hatte sie an der Saaltür gelauscht, hatte die Musik gehört, die er ihr geschenkt hatte, ihre Musik, und war unter Tränen wieder auf die Straße gelaufen. Sie hatte gewusst, dass sie nicht bis zum Ende warten durfte, dass sie ihn unmöglich

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