Herr Palomar
hervor, um etwas zu bedeuten … Aber was? Sich selbst. Ein Ding genießt die Betrachtung durch andere Dinge nur, wenn es überzeugt ist, sich selbst und nichts anderes zu bedeuten, inmitten von Dingen, die nur sich selbst bedeuten, nichts anderes. Dergleichen Gelegenheiten sind freilich selten, doch früher oder später müssen sie sich ergeben. Es genügt zu warten, bis eine jener glücklichen Konstellationen eintritt, in denen die Welt im gleichen Moment betrachten und betrachtet werden will und Herr Palomar sich gerade dazwischen befindet. Oder besser: Herr Palomar muß nicht einmal darauf warten, denn solche Dinge geschehen nur, wenn man sie am wenigsten erwartet.
Das Universum als Spiegel
Herr Palomar leidet sehr unter seinen Schwierigkeiten in der Beziehung zum Nächsten. Er beneidet die Leute mit der Gabe, immer das richtige Wort zu finden, den richtigen Ton für jeden, die sich mit allen wohl fühlen und allen ein Wohlgefühl geben, die sich locker und zwanglos unter den Leuten bewegen und immer wissen, wann sie in Deckung oder auf Distanz gehen müssen und wann sie sich Sympathie und Vertrauen erwerben können, die im Kontakt mit den anderen ihr Bestes geben und den anderen Lust machen, gleichfalls ihr Bestes zu geben, die immer gleich wissen, was sie von einem halten sollen, im Verhältnis zu sich und überhaupt.
Diese Gaben – denkt Herr Palomar mit der Bekümmertheit dessen, der sie nicht hat – werden denen zuteil, die mit der Welt im Einklang leben. Ihnen gelingt es auf ganz natürliche Weise, ein harmonisches Verhältnis nicht nur zu den Menschen herzustellen, sondern auch zu den Dingen, den Orten, den Situationen und Konstellationen, zum Lauf der Gestirne am Himmel wie zur Aggregation der Atome in den Molekülen. Die Lawine von simultanen Ereignissen, die wir »das Universum« nennen, läßt jene Glücklichen ungeschoren, die noch durch die feinsten Ritzen zwischen der Unzahl von Kombinationen, Permutationen und Konsequenzverkettungen durchzuschlüpfen verstehen und dabei die Bahnen der mörderischen Meteoriten meiden, um nur die wohltuenden Strahlungen aufzufangen. Wer dem Universum wohlgesonnen ist, dem ist auch das Universum wohlgesonnen. Könnte ich doch – seufzt Herr Palomar – ebenso sein!
Er beschließt zu probieren, es jenen Glücklichen nachzutun. Von nun an wird all sein Bemühen darauf gerichtet sein, sich mit der ihm nächsten Menschheit ebensogut in Einklang zu bringen wie mit dem fernsten Spiralnebel im System der Galaxien. Als erstes beginnt er, da er mit seinem Nächsten zu viele Probleme hat, seine Beziehungen zum Universum zu verbessern. Er zieht sich zurück und meidet soweit wie möglich den Umgang mit seinesgleichen, er gewöhnt sich daran, den Kopf leerzuräumen, indem er alle indiskreten Präsenzen daraus vertreibt, er betrachtet den Himmel in sternklaren Nächten, liest Bücher über Astronomie und macht sich so lange mit dem Gedanken der Sternenräume vertraut, bis dieser zu einem festen Bestandteil seiner geistigen Wohnungseinrichtung wird. Dann beginnt er zu üben, sich in Gedanken gleichzeitig die nächsten und fernsten Dinge gegenwärtig zu halten: Wenn er die Pfeife anzündet, darf er bei aller Aufmerksamkeit für die Streichholzflamme, die sich beim nächsten Zug ganz in den Pfeifenkopf einsaugen lassen muß, um die langsame Transformation der Tabakfasern in Glut einzuleiten, keinen Moment lang die Explosion einer Supernova vergessen, die sich im selben Augenblick gerade – das heißt vor ein paar Millionen Jahren – in der Großen Magellan-Wolke ereignet. Der Gedanke, daß alles im Universum zusammenhängt und sich entspricht, verläßt ihn nie: Eine Helligkeitsschwankung im Nebel des Krebses oder die Verdichtung eines Sternhaufens im Andromedanebel können nicht ganz ohne Einfuß auf das Funktionieren seines Plattenspielers sein oder auf die Frische der Kressenblätter in seiner Salatschüssel.
Als er schließlich überzeugt ist, den eigenen Platz genau bestimmt zu haben inmitten des stummen Haufens der Dinge, die im Leeren treiben, inmitten der Staubwolke von aktuellen und eventuellen Ereignissen, die in Raum und Zeit schwebt, hält er den Moment für gekommen, diese kosmische Weisheit auf die Beziehungen zu seinesgleichen anzuwenden. Er beeilt sich, in die Gesellschaf zurückzukehren, knüpf wieder Kontakte, erneuert seinen Bekannten- und Freundeskreis, auch seine Geschäftsverbindungen, unterzieht seine familiären und affektiven Bande einer
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