Herr Tourette und ich
besonders gründlich auf die Interrailkarte schauen, damit sie mit eigenen Augen sehen, dass sich hier ein seriöser Reisender auf eine seriöse Reise macht, die er selbst bezahlt hat. Ich verspüre eine Anspannung im Körper, es zuckt, das Leben geht weiter, ich werde eine Reise machen, eine ganz eigene Reise, meine eigene Reise. Doch, ich bin ganz sicher, dass ich mich selbst mag, als ich da in Wagen 23 steige, auf dem Weg zu Platz 14.
Zucken im Bauch, Geräusch, zurückgehen, wiederholen. Das Passieren der Türschwelle im Wagen wiederholen, fünfmal. Ich zähle jeden Schritt, den ich mache, wische den Schmutz von den Handschuhen am Wagen ab, an der Toilettentür, am Nebensitz. Ich muss mich neunmal auf den Sitz setzen, den Körper im Winkel von fünfundvierzig Grad verdrehen, eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier x neun zählen, ehe ich mich setzen kann, erst die linke Körperseite auf den Sitz, was ich eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier x neun wiederholen muss. Der Zug ruckt an, und ich absolviere meine letzten eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier-Übungen, ehe ich richtig in den Sitz gleiten kann.
Der Kopf dröhnt, das Herz pumpt im Stress, das Gehirn fühlt sich erschöpft an, ebenso Beine und Arme – die Zwangsgedanken haben den Körper wieder einmal überrollt. Aber weil der Zug jetzt losfährt, verspüre ich dennoch, wie sich eine gewisse Erleichterung im Blutkreislauf ausbreitet. Ich rutsche tiefer in den Sitz, sehe aus dem Fenster, sehe Oslo aus einem anderen Blickwinkel, Straßen, auf denen ich gewandert bin, Ecken, Fabriken, Lagergebäude und Garagen, wo ich mich ausgeruht habe, alte Stadtteile verschwinden und werden durch Vororte ersetzt, die weggewischt werden und zu kleinen grauen, öden Punkten hinter mir werden. Ich schaffe es nicht, zurückzusehen, ich sehe nach vorn. Ich sehe Wald, ein langweiliges Tal, noch mehr Wald, einen kleinen Ort, ein neues Tal, alten Wald. Ich erinnere mich nicht, was ich sehe, eigentlich spielt es auch keine Rolle, ich gleite in einen neuen Auszeit-Zustand hinüber, der mehrere Stunden anhalten wird, bis ich irgendwo tief im Wald die Grenze überqueren werde. Ich zähle eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei vier und schließe die Augen. Das wiederhole ich viermal. Dann darf ich die Augen schließen. Und ich halte die Augen geschlossen, bis ich einschlafe.
Värmland
Ich sehe einen See, einen Binnensee, so sauber und schön und einladend wie in einem Film. Direkt neben den Gleisen folgt eine Straße der Eisenbahn durch den Wald. Die Straßenschilder sind gelb und rot, die Mittellinie auf der Straße ist weiß. Als wir an einem weiteren Binnensee vorbeikommen und ein Schaffner in blauem Jackett, schwarzen Hosen und einer viel zu großen Mütze elegant durch das Abteil gleitet und sagt: »Zugestiegene die Fahrausweise, bitte«, da begreife ich – ich bin in Schweden. Mein Körper fühlt sich träge an, und ich schlafe wieder ein. Und wieder. Eine halbe Stunde später bin ich wach genug, um mich orientieren zu können, wo in Schweden ich bin, und vor allem, wie spät es ist. Ich bleibe sitzen und denke, sehe aus dem Fenster, denke weiter. Ich weiß nicht, woran, ich weiß nur, dass ich die ganze Zeit versuche, die Zwänge wegzudenken, aber was ich denke, das weiß ich nicht. Die Gedanken scheinen dem Gehirn meist hinterherzuhängen, ungefähr so, wie Wagen 23 einfach hinter der Lok hängt, ohne eigentlich zu wissen, wo die Fahrt enden wird. Und das ist gut, es fühlt sich unglaublich gut an, die Gedanken einfach mit auf die Reise gehen zu lassen. Ich kann mich nicht entsinnen, wann mir das zuletzt passiert ist. Man merkt, dass der Zug auf dieser Seite der Grenze schneller fährt und den Namen Express verdient.
Ich blättere in der Zeitschrift, die auf dem Nachbarsitz liegt. Ich habe schon immer gern Karten angeschaut, mir einen Weg gesucht, neue Städte entdeckt. Karten sind Wirklichkeit und Phantasie zugleich – ich kann einen Ort auf der Karte finden und dann darüber träumen, wie er wohl aussieht. Die nächste Haltestelle liegt an einer Bucht, eine Stadt an einer Bucht. Sie scheint nicht groß zu sein, aber es lockt mich, einfach in einer Stadt herumzuwandern, ohne bedroht zu werden und ohne festgefahrene Türschwellen, das fühlt sich schon luxuriös an. In einer halben Stunde wird der Zug dort halten. Ich merke, wie es in den Beinen zuckt, auch im Bauch, und ohne es zu merken, zupfe ich die
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