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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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würde sich an einem Tag wie diesem ziemlich gut anfühlen. Aber ich wage es nicht. Nicht nur, weil Blaubart und seine Freunde unter Umständen das Zimmer überwachen, viel bedrohlicher ist die Gefahr, in einem Zwangsritual stecken zu bleiben. Dass ich vor der Eingangstür, der Zimmertür oder der Toilettentür oder gar allen dreien hängen bleibe, ist eher die Regel als die Ausnahme. Das würde nur unnötig Stress machen, und deshalb warte ich damit, meine Kleider zu holen, bis ich eines Tages frisch und fröhlich, in schicken Sachen, mit teurem Aftershave und gut geschnittenem Haar auftauchen kann. Dann werde ich meinen neuen Chrysler vor der Tür parken, Hand in Hand mit meiner neuen Freundin in meinem neuen Anzug und meinen neuen Schuhen zum Haus gehen, und dann werde ich an der Tür klingeln, die alte Dame wird mich kaum wiedererkennen, ich umarme sie und trinke dann eine Tasse Kaffe mit Nachschenken bei ihr, ehe ich sie bitte, meine Kleider und meine Plattensammlung holen zu dürfen.

    Vielleicht nächste Woche. Oder übernächste. In einem Monat werde ich bestimmt so weit gesund sein, dass ich meine Kleider und Platten holen kann, da bin ich ziemlich sicher. Bis dahin wird mir reichen, was ich habe. Gut – Zucken im Bauch, kleines Geräusch .

    Ich verstecke die Krücke unter dem Rücksitz, fege Krümel und Essensreste weg, werfe die Servietten und Saftkartons in ein altes Ölfass in der Fabrik. Ich finde, dass das Auto sauber und einladend aussieht, frisch und schön. Ich setze mich auf die Motorhaube, die von der Sonne den ganzen Morgen aufgewärmt wurde, und es ist, als würde man auf einer lauwarmen Heizung sitzen. Die Ledertasche liegt neben mir. Ich bin richtig hungrig, und zwar auf etwas Luxus. Also mache ich das Glas mit Erdnussbutter auf, tauche den Finger in die Butter und lecke ihn ab – gut und frisch und süß. Ich möchte das Auto nicht verlassen, ich weiß nicht warum, aber ich bin niedergeschlagen, als würde ich von jemandem weggehen, den ich mag, jemandem, der mir viel von sich selbst gegeben hat, der mich willkommen geheißen hat, ohne mich gleich zu verurteilen. Ich kratze mit den Fingernägeln über die Motorhaube, die Nägel werden ganz orange, ich lecke daran. Dann schlage ich wie zu einem letzten Gruß mit der Hand auf die Motorhaube und gehe davon, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ein paar Stationen weit fahre ich mit der U-Bahn, doch es scheint mir sicherer, die letzten Kilometer zum Hauptbahnhof zu wandern. Während ich laufe, habe ich den Geschmack von rostigem Blech im Mund, als hätte ich mit einem alten Auto einen Zungenkuss ausgetauscht.

    Ich kaufe ein Interrailticket. Ist man unter sechsundzwanzig Jahren, dann kostet es vierhundert Kronen. Während eines Monats kann ich jetzt so viel, so lange und wohin ich will fahren. Ich habe immer noch einiges Geld übrig, und sollte ich von akuter Armut heimgesucht werden, dann kann ich mich noch mit einer Reihe Bic-Stifte und einem dünnen Nagel trösten. Ich zeige meinen Pass, das einzige Papier, das ich besitze, abgesehen vom Führerschein, den ich aber nicht benutzen darf, weil ich in den vergangenen zwei Jahren drei Unfälle verursacht habe – zweimal zu Hause im Dorf und einmal unter dem Kommando der Nato. Die Ursache für alle Unfälle waren Zwänge und Rituale und eine gehörige Portion Tics.

    Ich bezahle, unterschreibe ganz unten auf der Karte und begebe mich in die große Bahnhofshalle. Ich fühle mich immer noch beobachtet, als würde jemand hinter dem Pfeiler, im Kiosk, ganz hinten in der Schlange, drinnen im Café herumlungern. Ein Blick auf die Abfahrttafel. Ein schwindelerregendes Gefühl, auf jeden verfügbaren Zug aufspringen zu dürfen. Nach Norden, nach Süden, nach Westen oder nach Osten – ich habe die Wahl. Ich merke, dass ich am liebsten den Zug nach Hause nehmen würde, zu meinen Eltern, zum Dorf, gestehen, um Hilfe bitten, was auch immer. Aber in fünfundzwanzig Minuten geht der Nachmittagexpress nach Stockholm. Zucken im Bauch . Der Stockholmexpress muss es sein. Ich wechsele schnell noch schwedisches Geld, ein Fünfhunderter muss reichen. Schließlich werde ich nicht so lange in Schweden bleiben. Ein paar Tage, höchstens eine Woche. Langsam schleiche ich mich zum Bahnsteig, sehe mich um, gehe unschuldig an ein paar Zollbeamten und einem Polizeiauto vorbei, die sind offenbar gekommen, um einen Drogensüchtigen oder Obdachlosen einzusammeln. Die Zollbeamten sehen mich an, ich tue so, als würde ich

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