Herr Tourette und ich
Haut am Zeigefinger ab, und erst als die Schwedenkarte mit roten Punkten bedeckt ist, begreife ich, dass das Blut von meinem Zeigefinger kommt. Ich bin so an diese Tics gewöhnt, dass ich keinen Schmerz empfinde. Natürlich zieht es ein wenig, aber Ziehen ist kein Schmerz, Ziehen ist mehr eine Vorwarnung auf das, was noch kommt.
Jetzt sitze ich seit mehreren Stunden am selben Platz. Ich werde von einer akuten Angst erfasst – wenn sich nun ein Blutpfropf gebildet hat, der sich in zwei Teile teilt, der eine Teil setzt sich ins Herz, und der andere saust direkt ins Gehirn, und zack ich sterbe in Wagen 23. Das war’s dann mit dem Leben. Schluss, aus. Panik – Zucken im Bauch, Geräusch . Ich muss so schnell wie möglich aufstehen, ein paar Meter gehen und den Blutpfropf auflösen. Ein ziemlich junges Mädchen mit einem Servierwagen kommt auf mich zu. Sie lächelt und fragt, ob ich einen Kaffee möchte. Ich frage, wie lange es noch bis zum nächsten Halt ist, in der Stadt mit der Bucht. Und sie antwortet so schön und singend: »Däs kömmt so ongefähr in fömzehn Mönuten, dönke isch.«
Ich beschließe, fünfzehn Minuten auf und ab zu wandern. Der Kaffee muss warten.
Ich gehe im Wagen auf und ab und schüttele Arme und Finger und Beine aus, falls der Blutpfropf es geschafft hat, sich in zwei Teile zu teilen. Als ich das Gefühl habe, ihn in viele kleine Teilchen geschüttelt zu haben, kehre ich an meinen Platz zurück, hole die Ledertasche und stelle mich an die Tür ganz vorn im Wagen. Ich schaue zu der Bucht, die näher kommt, zu den Häusern und Autos. Obwohl ich gar nicht hungrig bin, hole ich ein Knäckebrot heraus, dass ich sehr langsam in mich hineinkaue. Zehn Minuten später steige ich aus dem Zug.
Es ist später Nachmittag und die Geschäfte machen gerade zu, trotzdem sind ziemlich viele Leute auf der Straße unterwegs, wenn man bedenkt, dass ich mich in einer Kleinstadt befinde. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Einen Schlafplatz zu finden dürfte kein Problem sein, der Bahnhof ist die ganze Nacht geöffnet, ich habe meine Interrailkarte und kann ganz einfach sagen, dass ich auf den nächsten Zug warte. Niemand kann mir einen Vorwurf machen, niemand kann mich rauswerfen. Ich gehe über einen ziemlich großen Platz mit Ausblick auf die Bucht, oder den Fjord, wie sie es nennen, obwohl es eigentlich ja gar kein Fjord ist. Nur kurz darauf stehe ich offenbar auf der Hauptstraße. Sie scheint lang, recht nett, hier und da mit Pflastersteinen, die ich dem reinen Asphalt vorziehe, weil die Pflastersteine nicht dieselbe Art zwingender Linien haben, wie reine Asphaltstraßen. Ich merke, dass ich mindestens zehn Minuten lang kein Ritual durchgeführt habe, das ist ein sensationell guter Start in den Nachmittag. Die angenehme Wirkung des Neuen, ja, ich habe langsam den Verdacht, dass neue Orte und Menschen es leichter machen und die Zwänge weniger zwingend, die Rituale weniger drängend. Ich gehe ein paarmal die Hauptstraße rauf und runter, sehe Schaufenster an, träume und denke nach. Fast wäre ich in einen Plattenladen gegangen, aber ich habe Angst, den neu gewonnenen Rhythmus und die Harmonie zu verlieren, indem ich mich einem unnötigen Türschwellenritual aussetze. Es kann Stunden dauern, durch die Tür zu kommen, und ich will einfach nicht wieder in der Ritualhölle enden. Nicht jetzt. Ganz am Ende der Hauptstraße bleibe ich vor einer phantastischen Konditorei stehen. Die Citykonditorei. Alles sieht aus, als wäre es aus einer Fünfzigerjahre-Phantasie ausgeschnitten – Mann und Frau in einer Art lokalem Servierkittel, Holzeinrichtung, Lächeln, Kaffeeduft, singender Dialekt, sanfte Musik. Ich muss in dieses Café, ich gehe das Risiko ein.
Einen, zwei, drei, vier fünf + einen, zwei, drei, vier Meter von der Tür entfernt, blauer Punkt, Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad anheben, eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier zählen, auf den blauen Punkt schauen, losgehen, eins, zwei, drei, vier, fünf, die Türschwelle überschreiten + dann eins, zwei, drei, vier.
Ich schaffe es im zweiten Versuch. Der zweite Versuch und zehn Minuten, das darf als persönlicher Rekord des Monats betrachtet werden. Das hier ist ein guter Tag, einer der besten seit langem, ganz ohne Zweifel. Vom Selbstvertrauen gestärkt, grüße ich das Personal, die meinen Gruß erwidern, mich aber etwas misstrauisch ansehen. Ich finde einen Tisch ganz hinten in der Ecke an einem der vielen Fenster.
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