Herr Tourette und ich
Pensionen in der Stadt, aber wenn ich eine positive Routine gefunden habe, kann es gefährlich oder schlichtweg tödlich sein, das Verhalten zu ändern. Dann erhalten Rituale und Zwänge die Möglichkeit, sich dazwischenzuschieben, sich in die neue Routine zu schleichen und mein Verhalten zu behindern. Es gilt, alles im Fluss zu halten und nichts zu verändern, ganz gleich, wie anstrengend das auch ist. Ich bin lieber nach der ganzen Arbeit und der Zugfahrerei vollkommen am Ende, als dass ich in ein Hotel gehe und riskiere, von Zwängen und Ritualen bei lebendigem Leibe verschlungen zu werden. Ich gehe keine Risiken mehr ein, denn das kann lebensgefährlich sein. Also läuft die Arbeit weiter, und es ist auch kein Problem, dass ich Freitag und Samstag frei nehme. Ich verspreche, mit der intensiven körperlichen Arbeit weiterzumachen, wenn ich das Vorsprechen in Göteborg hinter mich gebracht habe. Meine Interrailkarte ist immer noch zwei Wochen gültig, und mit meinem neuen Job kann ich mir auch leisten, noch eine zu kaufen, falls das notwendig sein sollte. Platen fragt mich, ob ich nicht anfangen wolle, Traktor zu fahren. Aber das scheint mir gefährlich – da würde ich die meiste Zeit im Sitzen verbringen, der Körper würde keine Energie abarbeiten, die Gefahr, von Ritualen überfallen zu werden, wäre größer. Ich danke ihm für das Vertrauen, sage aber, ich würde die schwere körperliche Arbeit vorziehen. »Du bist mir ein verdammt fleißiger Kerl«, sagt er da und lacht.
Grotowski und ich
Freitagmorgen um halb acht steige ich im Hauptbahnhof von Göteborg aus dem Zug. In zweieinhalb Stunden soll ich an der Theaterschule vorsprechen. Ich trinke Kaffee und esse vier Knäckebrote mit Schinken, den ich vom Hof mitgenommen habe. Die ersten fünf Tage lang war der Schinken gut, aber es ist genau wie mit den Rippchen, nach einer Weile schmeckt alles einfach … einfach Rippchen, eben. Aber ich bin satt, und darauf kommt es schließlich an. Der Genuss ist erst mal zweitrangig. Ich sehe mir den Stadtplan an und versuche, die Schule ausfindig zu machen, und den Weg dorthin. Und was werde ich danach machen, und was morgen und am Sonntag? Eigentlich wäre es leichter, wenn ich gar nicht weiter zu diesem Workshop ginge. Ich müsste mich nur wieder in den Zug setzen, nach Stavnäs zurückfahren und würde stattdessen reich an körperlicher Erschöpfung. Irgendwie habe ich das Gefühl, das mit dem Theater, ja, so wahnsinnig wichtig ist es nun auch wieder nicht, wenn ich es mir recht überlege. Ich wandere ungefähr eine Stunde an einer extrem befahrenen Straße entlang und lande am Ende vor einem schwarzen kastenförmigen Gebäude, das auf einer Wiese steht. Auf dem Weg zur Schule versuche ich, den Peer-Gynt-Text zu rekapitulieren, doch ich erinnere mich an keine Zeile, ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, die Zwänge so gut es geht auf Abstand zu halten. Und damit geht es drinnen im Gebäude erst richtig los. Ein Wald aus Türschwellen, Berge von Türen, massenhaft Menschen – Zucken im Bauch .
Fünfundvierzig Minuten brauche ich, um in das Gebäude hinein und zum Empfangstresen zu kommen. Zehn Minuten zu spät. Aber ich darf trotzdem vorsprechen. Sie bitten mich, einen der Umkleideräume auszusuchen, um mich umzuziehen. Umziehen?, denke ich. Wozu denn? Ich ziehe den Mantel aus, hänge ihn an einen Haken und ziehe mein gelb-schwarzes Synthie-Hemd raus, so dass es über der Hose hängt – Peer Gynt, yes Sir . Dann blättere ich noch einmal den Text durch, erinnere mich aber immer noch an kaum etwas. Wahrscheinlich wäre es am besten, einfach abzuhauen, die Sache sausen zu lassen und sich auf ein Leben zwischen Kartoffeln und Wasserschläuchen zu konzentrieren. »Kristinus«, sagt jemand durch einen Lautsprecher. »Kristinus Bergmann, bitte.« Ich gehe langsam auf die Bühne, die völlig frei von Türschwellen ist.
»Einen Moment«, sagt einer von den fünf Jurymitgliedern. »Noch nicht.« Sie scheinen zu glauben, ich hätte bereits angefangen.
»Möchten Sie vorher noch was sagen?«, fragt der schwarz gekleidete Mann ohne Haare.
»Nein«, antworte ich.
»Nun gut. Wenn Sie das Gefühl haben …«, fügt er hinzu. Dann folgt eine lange Pause.
»Wie bitte?«, frage ich.
»Was?«
»Wenn ich was für ein Gefühl habe?«
»Anfangen zu wollen.«
Ich drehe mich im Kreis, und ohne zu denken, dass ich das tun werde, fange ich an, ein paarmal auf und nieder zu springen, wie um in Gang zu kommen, dem
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