Herr Tourette und ich
Geräusche oder Stimmen sind zu hören, keine Türen werden geöffnet oder geschlossen und keine Autos gestartet. Ich denke mal, dass es später Nachmittag sein muss. Ich bleibe liegen, es fühlt sich schön an, mir ist überhaupt nicht nach Aufstehen. Dann denke ich über bequeme Kleidung und Sportschuhe für den nächsten Tag nach, und über Züge und Ausruhen am Abend. Ich beschließe, das Gebäude nicht zu verlassen und lieber hier im Zimmer zu bleiben. In der Ledertasche habe ich Rippchen und Knäckebrot, dazu noch einige Stückchen Brot und Aufschnitt vom Hof, also werde ich zurechtkommen, ich werde hervorragend zurechtkommen, zumindest werde ich nicht verhungern.
Du warst absolut unhysterisch
Jemand macht nur wenige Meter von meinem Raum entfernt eine Tür auf. Ich versuche, mich zu orientieren und weiß relativ schnell, wo ich bin, und was ich hier mache. Vorsichtig stehe ich auf, öffne die Tür und gehe ein paar Meter auf die Bühne hinaus. Ich sehe, dass ein Wachmann oder Lehrer unten vor der Bühne Stühle in einem Halbkreis aufstellt. Die Wanduhr zeigt ungefähr sieben. Da habe ich eine gute Anzahl Stunden geschlafen, ich müsste zufrieden sein. Doch irgendetwas hält mich zurück, als würde ich mich in meiner Haut nicht wohlfühlen, als würden Gebäude und Raum und Bühne mich keine Inspiration empfinden lassen, als würde mir jemand ins Ohr schreien: Fahr zum Teufel, das hier geht dich nichts an . Ich ziehe mich in mein kleines Zimmer zurück, esse ein paar Scheiben Knäckebrot und ein paar säuerliche und trockene Stücke Fleisch und spüle das Frühstück mit Orangensaft und Wasser herunter. Ich merke, dass Körper und Gedanken sich immer noch auf demselben niedrigen Niveau befinden wie gestern. Ich habe Angst, dass ein Tag voller Rituale und extremer Zwangsgedanken vor mir liegen könnte. Also versuche ich, ein wenig im Zimmer herumzugehen, um die Stimmung auszuloten, die Gedanken zu testen und den Ritualen entgegenzutreten. Es fühlt sich überhaupt nicht gut an. Am liebsten würde ich mich weiter ausruhen, weiter in meiner defensiven Offensive verharren und alles andere einfach sein lassen. Aber in zwei Stunden werde ich auf einem der Stühle da unten vor der Bühne sitzen und so tun, als wäre ich Schauspieler. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich dann immer noch hier im Zimmer sitzen werde – ich muss vier Türschwellen überqueren, ehe ich mich auf einen der Stühle setzen kann, und das Hinsetzen wird auch Ritualarbeit erfordern. Vielleicht werde ich zwei, drei Stunden brauchen, um hier weg und in den Bühnenraum zu kommen, und dann eine halbe Stunde, um mich auf den Stuhl zu setzen. Außerdem muss ich den Mantel ausziehen, das Hemd aus der Hose ziehen, die Schuhe ausziehen – bequeme Kleidung und Sportschuhe . Ich fange mit dem Mantel an. Eine Viertelstunde später liegt er neben mir. Aus den Schuhen rutsche ich schneller raus, höchstens zehn Minuten. Jetzt höre ich immer mehr Stimmen aus dem Raum nebenan, immer lautere und fröhliche und lebendige Stimmen. Bald beginnt der Unterricht, und ich bin noch kaum aufgestanden. Ich sehe ein, dass ich bei diesem Tempo unweigerlich zu spät kommen werde, was man als Provokation empfinden wird. Also habe ich zwei Möglichkeiten: weiterschlafen oder den Workshop mit einer halben Odin im Körper beginnen. Ich mag diesen Nebel nicht, den das Odinzeug mit sich bringt, und der alles um mich herum verwischt und mich den Fokus verlieren lässt. Und hier darf ich den Fokus nicht verlieren. Ich werde ganz einfach in einer der Pausen eine Odin nehmen, wenn ich das Gefühl habe, nicht mehr gegen die Rituale kämpfen zu können. Kurzum. So wird es sein. Schließlich habe ich es bis hierher geschafft. Der Jury hat gefallen, was sie gesehen hat, denn sie werden mich wohl kaum aus Mitleid am Workshop teilnehmen lassen. Ich sollte dem Ganzen eine Chance geben, vielleicht wird der Workshop alle Zwänge abtöten und alle Rituale ausrotten.
Zucken im Bauch .
Ich stelle die Beine gegen die Wand und trinke das Orangensaftwasser auf, das sofort durch den Blutkreislauf schießt.
Wir sitzen alle im Halbkreis, jeder auf seinem Stuhl. Man hat uns aufgefordert, maximal zwei Minuten von uns selbst zu erzählen. In der ersten Minute sollen wir in Worten erzählen, in der zweiten ausschließlich körperliche Ausdrucksmittel verwenden. Ich sitze auf Stuhl Nummer drei. Links von mir sitzt ein Mädchen mit roten Haaren, und neben ihr ein Typ mit runder
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