Herr Tourette und ich
Körper Widerstand zu bieten, die Zwänge wegzuschieben. Ich schreie, auch das ist ungeplant – brrrrrrr . Dann drehe ich mich herum und fange an, eine Menge selbstkomponierter Wörter zu sagen, hier und da mit etwas Ibsen gewürzt. Das ist eigentlich alles, woran ich mich erinnere, das und dass der Mann ohne Haare zwischendurch lacht. Gegen Ende des Vorsprechens falle ich versehentlich auf den Rücken. Es tut furchtbar weh, und deshalb entscheide ich mich dafür, einfach liegen zu bleiben, die Zeit ist ohnehin um.
Es folgt eine lange Stille.
»Danke«, sagt einer der Schwarzgekleideten. »Wenn Sie weiterkommen, dann wird Ihr Name in vier Stunden unten im Foyer am Schwarzen Brett stehen.«
Im Umkleideraum sehe ich ein, dass ich den Mantel nicht wieder anziehen werde. Es würde zu lange dauern, und ich werde ja mindestens vier Stunden schwitzen müssen, bis um zwei Uhr das Ergebnis bekannt gegeben wird. Ich nutze die Gelegenheit, mich im Spiegel zu betrachten. Vielleicht war es nicht so gut, das Pflaster drauf zu lassen. Es fängt langsam an, schäbig zu werden, und als Requisite wirkt es vielleicht übertrieben, ich weiß nicht, eigentlich habe ich keine Ahnung.
Ich begebe mich in einen großen caféartigen Raum. Dort ist es schwarz von Menschen, alle scheinen verschiedene Ordner unter dem Arm und Hoffnung im Blick zu tragen. Wir warten alle darauf, dass es zwei Uhr wird und die Namen der Auserwählten bekannt gegeben werden, die am nächsten Tag an dem Workshop teilnehmen werden. Von hundert Bewerbern kommen zwanzig weiter. Ich denke, dass es recht gut gelaufen ist, mal abgesehen von der Schmerzattacke gegen Ende des Vorsprechens. Aber bestimmt glauben sie, das sei ein Teil von Peer Gynts Zusammenbruch und nicht das Ergebnis eines mangelhaften Gleichgewichtssinns.
Ich setze mich auf einen Klappstuhl. Ich bin erschöpft und will um Himmels willen nicht ausgerechnet hier und jetzt anfangen zu ritualisieren. Die Umgebung ist neu, deshalb ist das Bedürfnis nach Ritual nicht so groß. Und doch habe ich das Gefühl, als seien der Körper unruhig und die Gedanken ungewöhnlich rastlos. Kein gutes Zeichen. Um zwei Uhr kommt das Ergebnis, danach schaffe ich es also noch in die Stadt, kann ein wenig herumwandern und etwas von Göteborg sehen, ehe ich um zehn Uhr abends den Nachtzug zurück nehme.
Ich nehme eine Tasse von dem Kaffee, der auf dem Tisch steht und für alle »Kandidaten« kostenlos ist. Er schmeckt nach altem Quecksilber, und ich trinke ihn hauptsächlich, um mich an etwas festhalten zu können. Ich verspüre einen ziemlich üblen Schmerz in ein paar Zähnen. Ich lasse die Zunge im Mund herumwandern – au. Die Zunge meldet, dass ein Stück Zahn abgebrochen ist, mitten beim Vorsprechen muss ein heftiger Tic zugeschlagen haben, oder es ist derselbe Zahn, den ich mir vor einigen Tagen in der Pension kaputtgebissen habe.
Um mich herum wimmelt es von Menschen in feuchten Gymnastikklamotten und durchscheinenden Trikots, in undefinierbaren Tops und offenherzigen Ausschnitten, und alle riechen sie nach Schweiß. Mein Schweiß ist stärker eingebrannt als ihr tagesfrischer, aber er verschmilzt doch auf eine Art mit dem der Menge. Ich merke, dass ich viele Blicke auf mich ziehe, aber sie starren nicht, sie schauen nur, ein wenig schüchtern, etwas fragend, aber es ist wohl kaum der Schweiß, der ihre Neugier weckt.
Ein Pärchen setzt sich im Café neben mich. Beide tragen Trikots, genau tupfengleiche Trikots, grau-schwarze Trikots mit dem obligatorischen Schweißfleck auf dem Rücken. Sie fangen an, sich zu küssen, rumzuknutschen, Spucke auszutauschen. Sie ekeln mich an. Das Geräusch ekelt mich an. Das Schmatzen und Schnalzen. Das Geräusch schneidet mir in die Ohren, teilt mein Gehirn in zwei Teile, es tut im Bauch und im Kopf weh. Ich schlage steinhart mit der Hand auf den Tisch. Sie hören auf, Spucke auszutauschen, sehen mich an, ich tue so, als würde ich in meinem Peer Gynt lesen. Sie suchen sich einen anderen Platz. Schön – Zucken im Bauch .
Doch nur ein paar Minuten später beginnt die Geräuschfolter aufs Neue. Ein Mädchen stellt sich zehn Meter von meinem Tisch entfernt vor einen Spiegel. Sie bewegt sich vor und zurück, kontrolliert ihre Körpersprache und isst gleichzeitig einen grünen Apfel. Der erste Biss ist nur ein Vortrigger für das, was den Tic auslöst – die verdammten Kaugeräusche. Die Motorsäge heult los, teilt mein Gehirn erneut in zwei Teile, Schleifpapier wird über
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