Herr Tourette und ich
in Göteborg, also brauche ich eine gewisse Alltagsroutine, um mich auf die Prüfung, auf »Peer Gynt« zu konzentrieren, eines der Bücher, das ich zufällig in der Tasche habe. Die beiden anderen sind ein Roman von Arthur Omre und »Hellys Reparaturhandbuch für den Chrysler 300C«, das ich im Kofferraum gefunden habe.
Ich schlendere in der Stadt herum, trinke eine Kanne Kaffee in der Citykonditorei, fühle mich wie ein Stammkunde und werde wie ein Fast-Stammkunde behandelt. Ich lese Vorder- und Rückseite der Lokalzeitung, orientiere mich für die Busreise am nächsten Morgen und die Zugreise in der Nacht. Dann wandere ich weiter, denke Zukunftsgedanken, setze mich auf eine Parkbank, gehe stolz an der Pension vorbei, denk nur, da habe ich gewohnt, ohne zu sterben. Gegen Mitternacht gehe ich zum Bahnhof hinunter, esse ein paar Knäckebrote und ruhe mich auf einer Bank aus.
Ich finde einen Fensterplatz ganz hinten im Zug. Sofort versuche ich einzuschlafen, aber ich strenge mich zu sehr an, so dass der Schlaf ausbleibt. So bleibe ich sitzen und denke darüber nach, dass es inzwischen schon Monate her ist, seit ich ein sinnvolles und etwas tiefergehendes Gespräch mit einem anderen Menschen hatte, sieht man einmal von meinen stressigen, dreiminütigen Familienanrufen jede dritte Woche ab. Meine derzeitigen Gespräche sind eigentlich keine Gespräche, sondern hauptsächlich einzelne Worte und Phrasen – hallo, tschüss, danke, vielen Dank, ja, gern noch etwas Kaffee. Ich denke nicht viel darüber nach, eigentlich merke ich nur, wenn ich andere Menschen sehe – in der Citykonditorei oder im Zug –, die zusammensitzen und miteinander reden und lachen und diskutieren, dass ich immer allein bin. Vielleicht fühle ich mich nicht einsam, aber ich bin zurzeit allein. Doch auch daran habe ich mich gewöhnt, wenn ich auch merke, dass ich in letzter Zeit angefangen habe, mit mir selbst zu reden, vor allem, wenn ich herumwandere. Das ist eigentlich ja nur eine Methode, die Stimme am Leben zu halten, sie zu trainieren, ihr beizubringen, mehr als nur Grußphrasen zu sagen. Ich interviewe mich selbst als Wayne Gretzky, Börje Salming, Franz Klammer oder Marlon Brando. Und das funktioniert. Hinterher fühle ich mich besser, wer weiß warum, es sind schließlich nur Träumereien.
Ich erwache davon, dass jemand mir die Hand auf die Schulter legt. »Hallsberg in zehn Minuten«, sagt der Schaffner. Zehn Minuten. Panik – Zucken im Bauch. Ich habe zehn Minuten, um aufzustehen, zum anderen Ende des Wagens zu gehen und aus dem Zug zu steigen. Das bedeutet, dass ich mindestens drei Türschwellen überqueren muss – und das in zehn Minuten. Aber ich schaffe es, in letzter Minute, unter Druck. Der Schaffner ruft mir wütend auf dem Bahnsteig hinterher:
»Jetzt lassen Sie verdammt noch mal die Wagentür los!« Aber ich mache mit dem Ritual weiter – eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier + vier Wiederholungen – lasse die Tür los und der Nachtzug gleitet weiter, mit vier Minuten Verspätung ab Hallsberg. Zum Glück kommt der Nachtzug aus Stockholm auf demselben Bahnsteig gegenüber an. Fünfzehn Minuten lang steht er im Bahnhof, ehe er weiter nach Westen fährt. Ich schaffe es in zehn Minuten in den Zug, und dann dauert es noch einmal zwanzig Minuten, einen Platz zu finden, der sich gut anfühlt – ich muss mit dem Gesicht nach Norden sitzen (= Kälte = Bazillen frieren kaputt und sterben = gut), nicht nach Süden (= Wärme = Schweiß = Bazillen = Ansteckung = Tod).
Nach fünfundzwanzig Minuten des Ritualisierens sitze ich bequem und sicher ganz hinten im Zug.
Ich nehme das Frühstück im Bahnhof ein. Esse ein paar Knäckebrote, die ich mit einem halben Liter Wasser runterspüle. Schön. Um halb acht geht der Bus nach Stavnäs. Schon ab sieben Uhr bereite ich mich auf das Einsteigen vor. Ich erledige meine heimlichen Rituale, zähle mehrere Male, ticse, aber kurz vor halb acht sitze ich sicher an Bord, ganz hinten im Bus.
Ich arbeite wie besessen
Stavnäs liegt sehr hübsch direkt an einem Binnensee, demselben Binnensee, der auch Fjord genannt wird. Aber ich sehe nicht das Schöne, sondern mehr die drei Wochen harter Arbeit vor mir. Die Umgebung spielt keine große Rolle, wenn ich arbeiten werde, die Anstrengung wird dadurch nicht weniger. Denn es wird sich herausstellen, dass es hier einfach nur um Arbeit und Anstrengung und noch mehr Arbeit geht. Der Hof ist nicht groß – in meinen Augen ist er
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