Herr Tourette und ich
Kombi, der ist bei den meisten Gelegenheiten praktisch, aber geht man abends noch mal vor die Tür, um ihn anzuschauen?«
»Ich kann nicht ganz folgen.«
»Genau. Das können Sie nicht, aber eigentlich doch. Verstehen Sie?«
»Nicht wirklich.«
»Sehen Sie? Sie verstehen das, was Sie verstehen wollen, das, was Sie schon verstanden haben werden, ehe Sie es ausprobiert haben.«
»Was?«
»Sie wissen, dass Sie die Neueste von Chicago mögen werden, denn Sie haben schon darüber gelesen und die Werbung gesehen. Aber werden Sie sie auflegen, bevor Sie abends ins Bett gehen?«
»Vielleicht …«
»Ja, vielleicht am ersten Abend. Aber dann. Am zweiten? Nein. Sie tun sie in den Walkman, wenn Sie nicht nachdenken oder sich anstrengen müssen. Und was habe ich gesagt?«
»Was Sie gesagt haben …?«
»Was Sie gerade tun?«
»Was ich tue …?«
»Dass Sie zu jung sind, um nicht mal was Neues auszuprobieren …«
»Was … was denn?«, fragt der Kunde, der angebissen hat.
»Zum Beispiel Ultravox. Die ihre Platten übrigens im selben Studio einspielen wie Chicago (gelogen), nämlich in London (wahr), und die denselben Tontechniker haben (gelogen), der, ob Sie’s glauben oder nicht, mit der Pianistin von Chicago verheiratet ist (wahr).«
»Wirklich?«
»Und Sie sind zu jung, um die Tomatenroutine zu fahren.«
»Tomaten …?«
»Kaufen Sie die Sammel- LP mit unter anderem Ultravox und Cabaret Voltaire und Visage, und dann kriegen Sie eine Chicago-Single gratis. Aber das bleibt unter uns …«
»Na ja …«
»Gut. Sehen Sie.«
»Was sehe ich?«
»Dass Chicago Dosenkost ist, während Sie jetzt frische Ware kriegen, und dass Sie zu jung sind, um sich jetzt schon von der Volvo-Kombi-Routine einschneien zu lassen.«
»Na ja …«
»Sehen Sie.«
»Was …?«
»Neunundneunzig Kronen.«
»Und die Chicago-Single gratis.«
»Na klar.«
»Danke«, sagt der Kunde zufrieden.
»Ich danke«, erwidere ich.
Die meisten schlucken mein Manöver, freuen sich über die Komplimente und kaufen Synthiemusik und kriegen eine Single gratis dazu. Ich selbst finde, dass ich der Synthiebranche einen ungeheuren Dienst erweise, aber vor allem ist das verbale Argumentieren die beste Waffe, um die Zwänge zumindest mal für eine Weile fernzuhalten.
Ich bleibe unten im Lager vor einer Türschwelle hängen. Nach einer Stunde kommt Johansen selbst, um nach mir zu suchen. Ich halte mein linkes Bein in einem Winkel von fünfundvierzig Grad und schaue auf einen blauen Punkt. Die Tür hinter mir öffnet sich, ich schaffe es gerade noch, mich zur Seite zu werfen und hinter einem Hocker mit leeren Kassetten zu verstecken. Ich bleibe liegen. Nur eine Minute, denke ich. Wenn ich eine Minute ausruhen darf, dann schaffe ich es, das Türschwellenritual ganz auszuführen, wieder in den Laden zu rennen und es Johansen zu erzählen, ehe er zum Mittagessen geht. Zu erzählen, wie es ist, dass meine Familie gerade angerufen hat, dass ein älterer, enger Verwandter gestorben ist, ja, dass ich erst mal hier unten im Lager fertig heulen musste, die Kunden sollten nicht mit meiner Trauer behelligt werden …
Johansen kauft mir die Schluchzgeschichte ab. Er kauft sie nicht direkt, sondern zum Schlussverkaufspreis, als würde er denken, »warum sollte er eine solche Geschichte erfinden?«.
X, z, y = scharfe Buchstaben = Messer = machen Löcher = Blut = Ansteckung = rot.
Ich sollte keine Plattenumschläge in die Hand nehmen, deren Künstler oder Gruppe mit einem x, z oder y beginnt oder die einen solchen Buchstaben im Namen haben. Ich sollte auch keine Plattenumschläge in die Hand nehmen, die rote Tendenzen aufweisen. Ich vermeide mit Kunden zu sprechen, die nach Künstlern wie XTC , Paul Young, Chicago, ZZ Top und Iron Maiden (zu viel Rot auf dem Umschlag) suchen. Ich meine schon voraussehen zu können, welche Kunden auf der Jagd nach ausgerechnet diesen Künstlern sind, also vermeide ich Blickkontakt, und dann bitten sie jemand anders um Hilfe. Wenn ich den Infotresen verlasse, dann nur, um weiblichen Kunden zu helfen. Nicht um zu baggern oder zu flirten oder Eindruck zu schinden, sondern weil sie ganz einfach gut riechen und nur selten Musik mit x, z oder y im Namen mögen. Die Gespräche, das Lächeln, die Gerüche und die Stimmen reichen, um mich bei meiner Arbeit zufrieden zu machen. Das beruhigt mich, und es geht mir besser.
Die Frau in Weiß
Eine große und vor allem extrem weißhaarige Frau kommt in den
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